Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876.§. 16. Das Staatsbürgerrecht im Einzelstaat. seinem Heimathsstaat das Staatsbürgerrecht behalten, in einemandern Bundesstaat dagegen den Unterstützungswohnsitz erworben hat und dann in hülfsbedürftigem Zustand in seinen Heimathsstaat zurückkehrt, so kann er zum Zweck seiner Verpflegung an den ver- pflichteten Armenverband ausgewiesen, also aus dem Gebiet seines Heimatsstaats entfernt werden 1). d) Vor Allem wichtig aber ist der im §. 23 des Gesetzes 1) Freizügigkeitsges. vom 1. November 1867 §. 5. Unterstützungswohn- sitzgesetz vom 6. Juni 1870 §. 6 und §. 55. Vgl. auch Riedel S. 258. 2) Es ergiebt sich hier aber eine, durch die Fassung des §. 25 des gedach-
ten Gesetzes hervorgerufene, schwierige Frage. Nach dem §. 25 findet nämlich "bis zum Erlasse eines gemeinsamen Strafgesetzbuchs" die Auslieferung in einer Reihe von Fällen nicht statt, insbesondere nach Nr. 2, wenn die Hand- lung nach den Gesetzen des Staates, in dessen Gebiete der Beschuldigte oder Verurtheilte sich befindet, nicht mit Strafe bedroht ist. Es frägt sich nun, ob seit dem Erlaß des Strafgesetzbuchs die Auslieferung auch verlangt werden kann, wenn die Handlung nicht nach dem Strafgesetzbuch und ebensowenig nach den Landesgesetzen des requirirten Staates, sondern nur nach den Landesgesetzen des requirirenden Staates strafbar ist. Faßt man die Worte "bis zum Erlasse eines gemeinsamen Strafgesetzbuchs" als eine bloße Feststellung eines fixen terminus ad quem, ohne auf den Grund dieser Bestimmung zu achten, so wäre die Auslieferungspflicht mit dem Tage des Inkrafttretens eine unbeschränkte geworden. Geht man aber davon aus, daß der Sinn der Bestimmung der ist, daß kein Staat Personen zum Zweck der Bestrafung ausliefern soll, denen eine nach dem Recht dieses Staates strafbare Handlung überhaupt nicht zur Last fällt, so haben die Worte: "bis zum Er- lasse eines gemeinsamen Stafgesetzbuchs" den Sinn: "so lange das materielle Strafrecht in den Bundesstaaten nicht einheitlich normirt ist." Bei dieser Auslegung besteht daher die Bestimmung des §. 25 Z. 2 noch in Kraft hin- sichtlich derjenigen Materien, welche das R.-St.-G.-B. nicht einheitlich geregelt hat und hinsichtlich deren die Einzelstaaten die strafrechtliche Autonomie behal- ten haben. Die Auslieferung könnte daher nur gefordert werden, wenn die Handlung sowohl nach dem Landesgesetz des requirirenden, als auch nach dem Landesgesetz des requirirten Staates strafbar ist. §. 16. Das Staatsbürgerrecht im Einzelſtaat. ſeinem Heimathsſtaat das Staatsbürgerrecht behalten, in einemandern Bundesſtaat dagegen den Unterſtützungswohnſitz erworben hat und dann in hülfsbedürftigem Zuſtand in ſeinen Heimathsſtaat zurückkehrt, ſo kann er zum Zweck ſeiner Verpflegung an den ver- pflichteten Armenverband ausgewieſen, alſo aus dem Gebiet ſeines Heimatsſtaats entfernt werden 1). d) Vor Allem wichtig aber iſt der im §. 23 des Geſetzes 1) Freizügigkeitsgeſ. vom 1. November 1867 §. 5. Unterſtützungswohn- ſitzgeſetz vom 6. Juni 1870 §. 6 und §. 55. Vgl. auch Riedel S. 258. 2) Es ergiebt ſich hier aber eine, durch die Faſſung des §. 25 des gedach-
ten Geſetzes hervorgerufene, ſchwierige Frage. Nach dem §. 25 findet nämlich „bis zum Erlaſſe eines gemeinſamen Strafgeſetzbuchs“ die Auslieferung in einer Reihe von Fällen nicht ſtatt, insbeſondere nach Nr. 2, wenn die Hand- lung nach den Geſetzen des Staates, in deſſen Gebiete der Beſchuldigte oder Verurtheilte ſich befindet, nicht mit Strafe bedroht iſt. Es frägt ſich nun, ob ſeit dem Erlaß des Strafgeſetzbuchs die Auslieferung auch verlangt werden kann, wenn die Handlung nicht nach dem Strafgeſetzbuch und ebenſowenig nach den Landesgeſetzen des requirirten Staates, ſondern nur nach den Landesgeſetzen des requirirenden Staates ſtrafbar iſt. Faßt man die Worte „bis zum Erlaſſe eines gemeinſamen Strafgeſetzbuchs“ als eine bloße Feſtſtellung eines fixen terminus ad quem, ohne auf den Grund dieſer Beſtimmung zu achten, ſo wäre die Auslieferungspflicht mit dem Tage des Inkrafttretens eine unbeſchränkte geworden. Geht man aber davon aus, daß der Sinn der Beſtimmung der iſt, daß kein Staat Perſonen zum Zweck der Beſtrafung ausliefern ſoll, denen eine nach dem Recht dieſes Staates ſtrafbare Handlung überhaupt nicht zur Laſt fällt, ſo haben die Worte: „bis zum Er- laſſe eines gemeinſamen Stafgeſetzbuchs“ den Sinn: „ſo lange das materielle Strafrecht in den Bundesſtaaten nicht einheitlich normirt iſt.“ Bei dieſer Auslegung beſteht daher die Beſtimmung des §. 25 Z. 2 noch in Kraft hin- ſichtlich derjenigen Materien, welche das R.-St.-G.-B. nicht einheitlich geregelt hat und hinſichtlich deren die Einzelſtaaten die ſtrafrechtliche Autonomie behal- ten haben. Die Auslieferung könnte daher nur gefordert werden, wenn die Handlung ſowohl nach dem Landesgeſetz des requirirenden, als auch nach dem Landesgeſetz des requirirten Staates ſtrafbar iſt. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0180" n="160"/><fw place="top" type="header">§. 16. 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§. 16. Das Staatsbürgerrecht im Einzelſtaat.
ſeinem Heimathsſtaat das Staatsbürgerrecht behalten, in einem
andern Bundesſtaat dagegen den Unterſtützungswohnſitz erworben
hat und dann in hülfsbedürftigem Zuſtand in ſeinen Heimathsſtaat
zurückkehrt, ſo kann er zum Zweck ſeiner Verpflegung an den ver-
pflichteten Armenverband ausgewieſen, alſo aus dem Gebiet ſeines
Heimatsſtaats entfernt werden 1).
d) Vor Allem wichtig aber iſt der im §. 23 des Geſetzes
über die Gewährung der Rechtshülfe vom 21. Juni 1869
ausgeſprochene Grundſatz, daß ein Bundesſtaat ſeine eigenen An-
gehörigen den Gerichten eines anderen Bundesſtaates zum Zweck
der Verfolgung oder Beſtrafung wegen einer im Gebiete des re-
quirirenden Bundesſtaates verübten, ſtrafbaren Handlung aus-
zuliefern verpflichtet iſt. Hier iſt im Intereſſe der einheitlichen
Strafrechtspflege im Reich die Kraft des Staatsbürgerrechts in
den Einzelſtaaten völlig gebrochen 2).
1) Freizügigkeitsgeſ. vom 1. November 1867 §. 5. Unterſtützungswohn-
ſitzgeſetz vom 6. Juni 1870 §. 6 und §. 55. Vgl. auch Riedel S. 258.
2) Es ergiebt ſich hier aber eine, durch die Faſſung des §. 25 des gedach-
ten Geſetzes hervorgerufene, ſchwierige Frage. Nach dem §. 25 findet nämlich
„bis zum Erlaſſe eines gemeinſamen Strafgeſetzbuchs“ die Auslieferung in
einer Reihe von Fällen nicht ſtatt, insbeſondere nach Nr. 2, wenn die Hand-
lung nach den Geſetzen des Staates, in deſſen Gebiete der Beſchuldigte oder
Verurtheilte ſich befindet, nicht mit Strafe bedroht iſt. Es frägt ſich nun, ob
ſeit dem Erlaß des Strafgeſetzbuchs die Auslieferung auch verlangt werden
kann, wenn die Handlung nicht nach dem Strafgeſetzbuch und ebenſowenig
nach den Landesgeſetzen des requirirten Staates, ſondern nur nach den
Landesgeſetzen des requirirenden Staates ſtrafbar iſt. Faßt man
die Worte „bis zum Erlaſſe eines gemeinſamen Strafgeſetzbuchs“ als eine
bloße Feſtſtellung eines fixen terminus ad quem, ohne auf den Grund dieſer
Beſtimmung zu achten, ſo wäre die Auslieferungspflicht mit dem Tage des
Inkrafttretens eine unbeſchränkte geworden. Geht man aber davon aus, daß
der Sinn der Beſtimmung der iſt, daß kein Staat Perſonen zum Zweck der
Beſtrafung ausliefern ſoll, denen eine nach dem Recht dieſes Staates ſtrafbare
Handlung überhaupt nicht zur Laſt fällt, ſo haben die Worte: „bis zum Er-
laſſe eines gemeinſamen Stafgeſetzbuchs“ den Sinn: „ſo lange das materielle
Strafrecht in den Bundesſtaaten nicht einheitlich normirt iſt.“ Bei dieſer
Auslegung beſteht daher die Beſtimmung des §. 25 Z. 2 noch in Kraft hin-
ſichtlich derjenigen Materien, welche das R.-St.-G.-B. nicht einheitlich geregelt
hat und hinſichtlich deren die Einzelſtaaten die ſtrafrechtliche Autonomie behal-
ten haben. Die Auslieferung könnte daher nur gefordert werden, wenn die
Handlung ſowohl nach dem Landesgeſetz des requirirenden, als auch nach dem
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