Das staatsbürgerliche Recht, dem Staat auch thatsächlich ange- hören zu dürfen, beschränkt sich aber nicht auf das bloße Existiren in dem Gebiet, in der Luft des Heimathsstaates; sondern es er- hält seinen bedeutungsvollen Inhalt in dem Anspruch, daß die Fürsorge des Staates für Aufrechthaltung der Rechtsordnung und zur Förderung der allgemeinen Wohlfahrt auch Jedem zu Theil werde, d. h. daß die bestehenden Gesetze, welche für ihn Rechte begründen oder seinem Interesse förderlich sind, auch wirklich zu seinen Gunsten angewendet werden. Im Einzelnen läßt sich dieses Recht ebenso wenig spezialisiren, wie die Gehorsamspflicht; beide empfangen gleichmäßig ihren Inhalt durch die Lebensthätigkeit des Staates selbst. Dem Begriff des Bundesstaates als eines zwei- fach gegliederten Staates gemäß ist dieses Recht sowohl gegen den Einzelstaat als gegen das Reich gerichtet, aber die Grenze zwischen dem Reichsbürgerrecht und dem Staatsbürgerrecht läßt sich auch hier nicht anders fixiren, wie bei der Unterthanenpflicht d. h. ledig- lich durch den Hinweis auf die Kompetenzgrenze. So wie die Einzelstaaten und das Reich auf allen Gebieten gemeinsam thätig sind und zusammenwirken und sich in ihrer Kompetenz gegenseitig ablösen, so wie sie zusammen die Staatsaufgabe erfüllen, so richtet sich auch das Recht des einzelnen Staatsbürgers, von dieser Fürsorge nicht ausgeschlossen zu werden, bald gegen den Einzelstaat bald gegen das Reich. In letzterer Beziehung kann man als Bethätigungen dieses Rechts oder als Mittel seiner Gel- tendmachung ansehen: die Appellation an die Reichsgerichte, die Beschwerdeführung bei den Reichsbehörden und die Einreichung von Petitionen bei dem Reichstage.
In einer Hinsicht hat dieses Recht einen prägnanten Ausdruck in der Reichsverfassung gefunden. Nach der Einleitung zur R.-V. gehört zu den Aufgaben des Reiches der Schutz des Rechtes in dem Bundesgebiet; die Handhabung dieses Schutzes ist indeß zum größten Theile den Einzelstaaten überlassen. Wenn aber ein einzelner Staat dieser fundamentalsten Aufgabe nicht nachkommt und der Fall einer Justizverweigerung eintritt, so liegt es nach Art. 77
1873 wegen Uebernahme von Auszuweisenden Art. 4 (Centralbl. I. S. 282); mit Großbritannien vom 14. Mai 1872 Art. 2 (R.-G.-Bl. 1872 S. 232); mit der Schweiz vom 24. Januar 1874 Art. 2 (R.-G.-Bl. 1874 S. 115).
§. 15. Der Inhalt des Reichsbürgerrechts.
Das ſtaatsbürgerliche Recht, dem Staat auch thatſächlich ange- hören zu dürfen, beſchränkt ſich aber nicht auf das bloße Exiſtiren in dem Gebiet, in der Luft des Heimathsſtaates; ſondern es er- hält ſeinen bedeutungsvollen Inhalt in dem Anſpruch, daß die Fürſorge des Staates für Aufrechthaltung der Rechtsordnung und zur Förderung der allgemeinen Wohlfahrt auch Jedem zu Theil werde, d. h. daß die beſtehenden Geſetze, welche für ihn Rechte begründen oder ſeinem Intereſſe förderlich ſind, auch wirklich zu ſeinen Gunſten angewendet werden. Im Einzelnen läßt ſich dieſes Recht ebenſo wenig ſpezialiſiren, wie die Gehorſamspflicht; beide empfangen gleichmäßig ihren Inhalt durch die Lebensthätigkeit des Staates ſelbſt. Dem Begriff des Bundesſtaates als eines zwei- fach gegliederten Staates gemäß iſt dieſes Recht ſowohl gegen den Einzelſtaat als gegen das Reich gerichtet, aber die Grenze zwiſchen dem Reichsbürgerrecht und dem Staatsbürgerrecht läßt ſich auch hier nicht anders fixiren, wie bei der Unterthanenpflicht d. h. ledig- lich durch den Hinweis auf die Kompetenzgrenze. So wie die Einzelſtaaten und das Reich auf allen Gebieten gemeinſam thätig ſind und zuſammenwirken und ſich in ihrer Kompetenz gegenſeitig ablöſen, ſo wie ſie zuſammen die Staatsaufgabe erfüllen, ſo richtet ſich auch das Recht des einzelnen Staatsbürgers, von dieſer Fürſorge nicht ausgeſchloſſen zu werden, bald gegen den Einzelſtaat bald gegen das Reich. In letzterer Beziehung kann man als Bethätigungen dieſes Rechts oder als Mittel ſeiner Gel- tendmachung anſehen: die Appellation an die Reichsgerichte, die Beſchwerdeführung bei den Reichsbehörden und die Einreichung von Petitionen bei dem Reichstage.
In einer Hinſicht hat dieſes Recht einen prägnanten Ausdruck in der Reichsverfaſſung gefunden. Nach der Einleitung zur R.-V. gehört zu den Aufgaben des Reiches der Schutz des Rechtes in dem Bundesgebiet; die Handhabung dieſes Schutzes iſt indeß zum größten Theile den Einzelſtaaten überlaſſen. Wenn aber ein einzelner Staat dieſer fundamentalſten Aufgabe nicht nachkommt und der Fall einer Juſtizverweigerung eintritt, ſo liegt es nach Art. 77
1873 wegen Uebernahme von Auszuweiſenden Art. 4 (Centralbl. I. S. 282); mit Großbritannien vom 14. Mai 1872 Art. 2 (R.-G.-Bl. 1872 S. 232); mit der Schweiz vom 24. Januar 1874 Art. 2 (R.-G.-Bl. 1874 S. 115).
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§. 15. Der Inhalt des Reichsbürgerrechts.
Das ſtaatsbürgerliche Recht, dem Staat auch thatſächlich ange-
hören zu dürfen, beſchränkt ſich aber nicht auf das bloße Exiſtiren
in dem Gebiet, in der Luft des Heimathsſtaates; ſondern es er-
hält ſeinen bedeutungsvollen Inhalt in dem Anſpruch, daß die
Fürſorge des Staates für Aufrechthaltung der Rechtsordnung und
zur Förderung der allgemeinen Wohlfahrt auch Jedem zu Theil
werde, d. h. daß die beſtehenden Geſetze, welche für ihn Rechte
begründen oder ſeinem Intereſſe förderlich ſind, auch wirklich zu
ſeinen Gunſten angewendet werden. Im Einzelnen läßt ſich dieſes
Recht ebenſo wenig ſpezialiſiren, wie die Gehorſamspflicht; beide
empfangen gleichmäßig ihren Inhalt durch die Lebensthätigkeit des
Staates ſelbſt. Dem Begriff des Bundesſtaates als eines zwei-
fach gegliederten Staates gemäß iſt dieſes Recht ſowohl gegen den
Einzelſtaat als gegen das Reich gerichtet, aber die Grenze zwiſchen
dem Reichsbürgerrecht und dem Staatsbürgerrecht läßt ſich auch
hier nicht anders fixiren, wie bei der Unterthanenpflicht d. h. ledig-
lich durch den Hinweis auf die Kompetenzgrenze. So wie die
Einzelſtaaten und das Reich auf allen Gebieten gemeinſam thätig
ſind und zuſammenwirken und ſich in ihrer Kompetenz gegenſeitig
ablöſen, ſo wie ſie zuſammen die Staatsaufgabe erfüllen, ſo
richtet ſich auch das Recht des einzelnen Staatsbürgers, von
dieſer Fürſorge nicht ausgeſchloſſen zu werden, bald gegen den
Einzelſtaat bald gegen das Reich. In letzterer Beziehung kann
man als Bethätigungen dieſes Rechts oder als Mittel ſeiner Gel-
tendmachung anſehen: die Appellation an die Reichsgerichte, die
Beſchwerdeführung bei den Reichsbehörden und die Einreichung von
Petitionen bei dem Reichstage.
In einer Hinſicht hat dieſes Recht einen prägnanten Ausdruck
in der Reichsverfaſſung gefunden. Nach der Einleitung zur R.-V.
gehört zu den Aufgaben des Reiches der Schutz des Rechtes in dem
Bundesgebiet; die Handhabung dieſes Schutzes iſt indeß zum größten
Theile den Einzelſtaaten überlaſſen. Wenn aber ein einzelner
Staat dieſer fundamentalſten Aufgabe nicht nachkommt und der
Fall einer Juſtizverweigerung eintritt, ſo liegt es nach Art. 77
3)
3) 1873 wegen Uebernahme von Auszuweiſenden Art. 4 (Centralbl. I. S. 282);
mit Großbritannien vom 14. Mai 1872 Art. 2 (R.-G.-Bl. 1872 S. 232);
mit der Schweiz vom 24. Januar 1874 Art. 2 (R.-G.-Bl. 1874 S. 115).
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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht01_1876/174>, abgerufen am 27.11.2024.
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