§. 10. Die Unterordnung der Einzelstaaten unter das Reich.
ihnen frei läßt. Aber ein solcher Raum ist vorhanden; er ist durch das Reich begränzt, aber nicht absorbirt.
Aus diesem Grunde erweist es sich als unrichtig, wenn man sagt, die Einzelstaaten seien zu Verwaltungs-Districten des Reiches geworden, sie hätten aufgehört, Staaten zu sein. Sie haben viel- mehr eine Fülle obrigkeitlicher Befugnisse und öffentlich rechtlicher Macht kraft eigenen Rechts; nicht durch Uebertragung vom Reich; nicht als Organe, deren sich das Reich bedient zur Erfül- lung seiner Aufgaben, zur Durchführung seines Willens, son- dern als selbstständige Rechtssubjecte mit eigener Rechtssphäre, mit eigener Willens- und Handlungsfreiheit. Dadurch eben unter- scheidet sich der zusammengesetzte Staat von dem decentralisirten Einheitsstaat, beziehentlich der Gliedstaat vom Selbstverwaltungs- Körper. Allerdings ist eine Einschränkung hinzuzufügen. Das Reich hat nämlich nach Art. 78 ideell eine unbegrenzte Kompetenz; es kann die verfassungsmäßig gestellte Gränze zwischen seiner Machtsphäre und der Machtsphäre der Einzelstaaten in der Form der Verfassungs-Aenderung einseitig d. h. ohne Zustimmung der einzelnen Gliedstaaten verändern; es kann also den Gliedstaaten die ihnen verbliebenen Hoheitsrechte entziehen. In einem gewissen Sinne kann man daher sagen, daß die Einzelstaaten ihre obrig- keitlichen Rechte nur durch die Duldung des Reiches, nur preca- rio, haben, daß ideell das Reich die staatliche Gewalt in voller Integrität besitze und daß die Einzelstaaten auch diejenigen Rechte, auf welche sich die Kompetenz des Reiches nicht erstreckt, ebenso wie diejenigen, welche ihnen das Reich innerhalb seiner Kompetenz zuweist, nur durch den Willen des Reiches haben.
Damit ist aber nur gesagt, was überhaupt von allen Rechten gilt, auch von sämmtlichen Berechtigungen des Privatrechts, daß sie nämlich nur bestehen, so lange eine höhere staatliche Macht sie duldet. Es ist gewiß, daß der souveräne Staat Eigenthum, Lehn- recht, die Gültigkeit gewisser Obligationen, die väterliche Ge- walt u. s. w. abzuschaffen vermag; daß jeder Staatsbürger jedes einzelne Vermögensrecht nur hat in dem Umfange und so lange, als der Staat es duldet. Aber dessen ungeachtet wäre es eine verkehrte Anschauung, alle dinglichen und Forderungsrechte der Individuen als vom Staate abgeleitete, von ihm übertragene
§. 10. Die Unterordnung der Einzelſtaaten unter das Reich.
ihnen frei läßt. Aber ein ſolcher Raum iſt vorhanden; er iſt durch das Reich begränzt, aber nicht abſorbirt.
Aus dieſem Grunde erweiſt es ſich als unrichtig, wenn man ſagt, die Einzelſtaaten ſeien zu Verwaltungs-Diſtricten des Reiches geworden, ſie hätten aufgehört, Staaten zu ſein. Sie haben viel- mehr eine Fülle obrigkeitlicher Befugniſſe und öffentlich rechtlicher Macht kraft eigenen Rechts; nicht durch Uebertragung vom Reich; nicht als Organe, deren ſich das Reich bedient zur Erfül- lung ſeiner Aufgaben, zur Durchführung ſeines Willens, ſon- dern als ſelbſtſtändige Rechtsſubjecte mit eigener Rechtsſphäre, mit eigener Willens- und Handlungsfreiheit. Dadurch eben unter- ſcheidet ſich der zuſammengeſetzte Staat von dem decentraliſirten Einheitsſtaat, beziehentlich der Gliedſtaat vom Selbſtverwaltungs- Körper. Allerdings iſt eine Einſchränkung hinzuzufügen. Das Reich hat nämlich nach Art. 78 ideell eine unbegrenzte Kompetenz; es kann die verfaſſungsmäßig geſtellte Gränze zwiſchen ſeiner Machtſphäre und der Machtſphäre der Einzelſtaaten in der Form der Verfaſſungs-Aenderung einſeitig d. h. ohne Zuſtimmung der einzelnen Gliedſtaaten verändern; es kann alſo den Gliedſtaaten die ihnen verbliebenen Hoheitsrechte entziehen. In einem gewiſſen Sinne kann man daher ſagen, daß die Einzelſtaaten ihre obrig- keitlichen Rechte nur durch die Duldung des Reiches, nur preca- rio, haben, daß ideell das Reich die ſtaatliche Gewalt in voller Integrität beſitze und daß die Einzelſtaaten auch diejenigen Rechte, auf welche ſich die Kompetenz des Reiches nicht erſtreckt, ebenſo wie diejenigen, welche ihnen das Reich innerhalb ſeiner Kompetenz zuweiſt, nur durch den Willen des Reiches haben.
Damit iſt aber nur geſagt, was überhaupt von allen Rechten gilt, auch von ſämmtlichen Berechtigungen des Privatrechts, daß ſie nämlich nur beſtehen, ſo lange eine höhere ſtaatliche Macht ſie duldet. Es iſt gewiß, daß der ſouveräne Staat Eigenthum, Lehn- recht, die Gültigkeit gewiſſer Obligationen, die väterliche Ge- walt u. ſ. w. abzuſchaffen vermag; daß jeder Staatsbürger jedes einzelne Vermögensrecht nur hat in dem Umfange und ſo lange, als der Staat es duldet. Aber deſſen ungeachtet wäre es eine verkehrte Anſchauung, alle dinglichen und Forderungsrechte der Individuen als vom Staate abgeleitete, von ihm übertragene
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§. 10. Die Unterordnung der Einzelſtaaten unter das Reich.
ihnen frei läßt. Aber ein ſolcher Raum iſt vorhanden; er iſt
durch das Reich begränzt, aber nicht abſorbirt.
Aus dieſem Grunde erweiſt es ſich als unrichtig, wenn man
ſagt, die Einzelſtaaten ſeien zu Verwaltungs-Diſtricten des Reiches
geworden, ſie hätten aufgehört, Staaten zu ſein. Sie haben viel-
mehr eine Fülle obrigkeitlicher Befugniſſe und öffentlich rechtlicher
Macht kraft eigenen Rechts; nicht durch Uebertragung vom
Reich; nicht als Organe, deren ſich das Reich bedient zur Erfül-
lung ſeiner Aufgaben, zur Durchführung ſeines Willens, ſon-
dern als ſelbſtſtändige Rechtsſubjecte mit eigener Rechtsſphäre, mit
eigener Willens- und Handlungsfreiheit. Dadurch eben unter-
ſcheidet ſich der zuſammengeſetzte Staat von dem decentraliſirten
Einheitsſtaat, beziehentlich der Gliedſtaat vom Selbſtverwaltungs-
Körper. Allerdings iſt eine Einſchränkung hinzuzufügen. Das
Reich hat nämlich nach Art. 78 ideell eine unbegrenzte Kompetenz;
es kann die verfaſſungsmäßig geſtellte Gränze zwiſchen ſeiner
Machtſphäre und der Machtſphäre der Einzelſtaaten in der Form
der Verfaſſungs-Aenderung einſeitig d. h. ohne Zuſtimmung der
einzelnen Gliedſtaaten verändern; es kann alſo den Gliedſtaaten
die ihnen verbliebenen Hoheitsrechte entziehen. In einem gewiſſen
Sinne kann man daher ſagen, daß die Einzelſtaaten ihre obrig-
keitlichen Rechte nur durch die Duldung des Reiches, nur preca-
rio, haben, daß ideell das Reich die ſtaatliche Gewalt in voller
Integrität beſitze und daß die Einzelſtaaten auch diejenigen Rechte,
auf welche ſich die Kompetenz des Reiches nicht erſtreckt, ebenſo
wie diejenigen, welche ihnen das Reich innerhalb ſeiner Kompetenz
zuweiſt, nur durch den Willen des Reiches haben.
Damit iſt aber nur geſagt, was überhaupt von allen Rechten
gilt, auch von ſämmtlichen Berechtigungen des Privatrechts, daß
ſie nämlich nur beſtehen, ſo lange eine höhere ſtaatliche Macht ſie
duldet. Es iſt gewiß, daß der ſouveräne Staat Eigenthum, Lehn-
recht, die Gültigkeit gewiſſer Obligationen, die väterliche Ge-
walt u. ſ. w. abzuſchaffen vermag; daß jeder Staatsbürger jedes
einzelne Vermögensrecht nur hat in dem Umfange und ſo lange,
als der Staat es duldet. Aber deſſen ungeachtet wäre es eine
verkehrte Anſchauung, alle dinglichen und Forderungsrechte der
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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht01_1876/126>, abgerufen am 22.11.2024.
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