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Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855.

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mit dem Alltagsleben mußte auch zugleich die Wirkung haben, daß die¬
ses Gefühl allmählich wieder in ihm abgestumpft wurde. Sein blutiges
Handwerk, wie es das unendliche Weh, das aus den stummen Augen
der Thiere jammert, zum Schweigen brachte, so schlug es auch die
verwandte Stimme in der Menschenbrust nieder. Daneben waren die
Gäste, mit denen er täglich in der Wirthsstube zu thun hatte, gewiß
lauter "ehrliche Leute", aber wahrhaftig keine Tugendspiegel, und er
hatte nur zu viele Gelegenheit, die mehr oder minder klare Betrach¬
tung anzustellen, daß Achtbarkeit und guter Ruf in dieser Welt sehr
oft weniger von einem streng ehrlichen und sittlichen Wesen als von
Klugheit und zufälligen Umständen abhängen. Je minder klar aber
diese Betrachtung in ihm aufstieg, desto gefährlicher war sie ihm.
Ueberhaupt wußte sein Kopf nichts von Nachdenken, sondern nur von
raschen Eindrücken, die sich unter lärmenden Zechgenossen und auf dem
Tanzboden entweder befestigten oder eben so rasch wieder verdampften.
Dieses Bedürfniß, eine immer rege mißbehagliche Unruhe zu verjubeln,
söhnte ihn auch wieder mit seiner Schwester aus, bald nachdem sie
dem aufgedrungenen Bräutigam angetraut worden war. Denn da sie
von ihrem Manne ziemlich leidlich behandelt wurde, so hatte sie dann
und wann den Trost, dem geliebten Bruder einen auf die Seite ge¬
brachten Groschen zustecken zu können, und Friedrich, den der Vater
sehr kurz zu halten für gut befand, verschmähte die klingenden Be¬
weise der Schwesterliebe nicht.

Während er auf diese Weise theils gleichgiltig, theils in dumpfer
Lustigkeit dahin lebte, kehrten auch seine äußeren Umstände ganz in
das gewöhnliche Geleise zurück. Zu Hause ging er unangefochten aus
und ein, und stand mit der Stiefmutter in jenem mürrischen Verkehr,
wo Gewohnheit die Stelle der Liebe vertritt. Auch in der Gemeinde
war er geduldet; Niemand zeigte sich ihm widerwärtig, Mancher blickte
ihn freundlich an, und des Makels, der auf ihm haftete, schien nicht
gedacht zu werden. Ihm selbst war nicht wohl und nicht wehe; mit
dem Zuchthause hatte er auch den Waisenpfarrer vergessen. Ein
strenges Gesicht machte ihm Niemand mehr als der Amtmann. Aber
dies hatte wenig zu sagen, denn der Amtmann galt persönlich nicht
sehr viel bei der Gemeinde und zu Hause gar nichts; auch nahm der im
Grunde gutmüthige und schwache Mann eigentlich nur deßhalb eine

mit dem Alltagsleben mußte auch zugleich die Wirkung haben, daß die¬
ſes Gefühl allmählich wieder in ihm abgeſtumpft wurde. Sein blutiges
Handwerk, wie es das unendliche Weh, das aus den ſtummen Augen
der Thiere jammert, zum Schweigen brachte, ſo ſchlug es auch die
verwandte Stimme in der Menſchenbruſt nieder. Daneben waren die
Gäſte, mit denen er täglich in der Wirthsſtube zu thun hatte, gewiß
lauter „ehrliche Leute“, aber wahrhaftig keine Tugendſpiegel, und er
hatte nur zu viele Gelegenheit, die mehr oder minder klare Betrach¬
tung anzuſtellen, daß Achtbarkeit und guter Ruf in dieſer Welt ſehr
oft weniger von einem ſtreng ehrlichen und ſittlichen Weſen als von
Klugheit und zufälligen Umſtänden abhängen. Je minder klar aber
dieſe Betrachtung in ihm aufſtieg, deſto gefährlicher war ſie ihm.
Ueberhaupt wußte ſein Kopf nichts von Nachdenken, ſondern nur von
raſchen Eindrücken, die ſich unter lärmenden Zechgenoſſen und auf dem
Tanzboden entweder befeſtigten oder eben ſo raſch wieder verdampften.
Dieſes Bedürfniß, eine immer rege mißbehagliche Unruhe zu verjubeln,
ſöhnte ihn auch wieder mit ſeiner Schweſter aus, bald nachdem ſie
dem aufgedrungenen Bräutigam angetraut worden war. Denn da ſie
von ihrem Manne ziemlich leidlich behandelt wurde, ſo hatte ſie dann
und wann den Troſt, dem geliebten Bruder einen auf die Seite ge¬
brachten Groſchen zuſtecken zu können, und Friedrich, den der Vater
ſehr kurz zu halten für gut befand, verſchmähte die klingenden Be¬
weiſe der Schweſterliebe nicht.

Während er auf dieſe Weiſe theils gleichgiltig, theils in dumpfer
Luſtigkeit dahin lebte, kehrten auch ſeine äußeren Umſtände ganz in
das gewöhnliche Geleiſe zurück. Zu Hauſe ging er unangefochten aus
und ein, und ſtand mit der Stiefmutter in jenem mürriſchen Verkehr,
wo Gewohnheit die Stelle der Liebe vertritt. Auch in der Gemeinde
war er geduldet; Niemand zeigte ſich ihm widerwärtig, Mancher blickte
ihn freundlich an, und des Makels, der auf ihm haftete, ſchien nicht
gedacht zu werden. Ihm ſelbſt war nicht wohl und nicht wehe; mit
dem Zuchthauſe hatte er auch den Waiſenpfarrer vergeſſen. Ein
ſtrenges Geſicht machte ihm Niemand mehr als der Amtmann. Aber
dies hatte wenig zu ſagen, denn der Amtmann galt perſönlich nicht
ſehr viel bei der Gemeinde und zu Hauſe gar nichts; auch nahm der im
Grunde gutmüthige und ſchwache Mann eigentlich nur deßhalb eine

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[57/0073] mit dem Alltagsleben mußte auch zugleich die Wirkung haben, daß die¬ ſes Gefühl allmählich wieder in ihm abgeſtumpft wurde. Sein blutiges Handwerk, wie es das unendliche Weh, das aus den ſtummen Augen der Thiere jammert, zum Schweigen brachte, ſo ſchlug es auch die verwandte Stimme in der Menſchenbruſt nieder. Daneben waren die Gäſte, mit denen er täglich in der Wirthsſtube zu thun hatte, gewiß lauter „ehrliche Leute“, aber wahrhaftig keine Tugendſpiegel, und er hatte nur zu viele Gelegenheit, die mehr oder minder klare Betrach¬ tung anzuſtellen, daß Achtbarkeit und guter Ruf in dieſer Welt ſehr oft weniger von einem ſtreng ehrlichen und ſittlichen Weſen als von Klugheit und zufälligen Umſtänden abhängen. Je minder klar aber dieſe Betrachtung in ihm aufſtieg, deſto gefährlicher war ſie ihm. Ueberhaupt wußte ſein Kopf nichts von Nachdenken, ſondern nur von raſchen Eindrücken, die ſich unter lärmenden Zechgenoſſen und auf dem Tanzboden entweder befeſtigten oder eben ſo raſch wieder verdampften. Dieſes Bedürfniß, eine immer rege mißbehagliche Unruhe zu verjubeln, ſöhnte ihn auch wieder mit ſeiner Schweſter aus, bald nachdem ſie dem aufgedrungenen Bräutigam angetraut worden war. Denn da ſie von ihrem Manne ziemlich leidlich behandelt wurde, ſo hatte ſie dann und wann den Troſt, dem geliebten Bruder einen auf die Seite ge¬ brachten Groſchen zuſtecken zu können, und Friedrich, den der Vater ſehr kurz zu halten für gut befand, verſchmähte die klingenden Be¬ weiſe der Schweſterliebe nicht. Während er auf dieſe Weiſe theils gleichgiltig, theils in dumpfer Luſtigkeit dahin lebte, kehrten auch ſeine äußeren Umſtände ganz in das gewöhnliche Geleiſe zurück. Zu Hauſe ging er unangefochten aus und ein, und ſtand mit der Stiefmutter in jenem mürriſchen Verkehr, wo Gewohnheit die Stelle der Liebe vertritt. Auch in der Gemeinde war er geduldet; Niemand zeigte ſich ihm widerwärtig, Mancher blickte ihn freundlich an, und des Makels, der auf ihm haftete, ſchien nicht gedacht zu werden. Ihm ſelbſt war nicht wohl und nicht wehe; mit dem Zuchthauſe hatte er auch den Waiſenpfarrer vergeſſen. Ein ſtrenges Geſicht machte ihm Niemand mehr als der Amtmann. Aber dies hatte wenig zu ſagen, denn der Amtmann galt perſönlich nicht ſehr viel bei der Gemeinde und zu Hauſe gar nichts; auch nahm der im Grunde gutmüthige und ſchwache Mann eigentlich nur deßhalb eine

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Zitationshilfe: Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/73>, abgerufen am 23.11.2024.