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Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855.

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auch ihnen sind Lichter aufgegangen, auch sie sind zu Gewißheiten und
Ueberzeugungen gekommen. Dann gerathen die Geister an einander:
der Mann des Wissens stößt den Glauben des Frommen zurück, und
der Mann des Glaubens erschrickt vor der Ueberzeugung des Denkers;
ja, unter den Gläubigen selbst, und bis in ihre engsten Kreise hinein,
ist Unterschied und Zwiespalt, weil Keiner die gemeinsame Wahrheit,
zu der sie sich bekennen, ganz im Lichte des Andern schauen kann.
Dieser Kampf der Geister verwundet das Herz, das die ganze Welt
in Frieden wissen möchte, aber das Herz kann den Menschen nicht allein
leiten, denn es würde ihn jeder herben Schule, die ihm nöthig ist,
entziehen. Der Kampf der Geister ist gut, auch wenn er schmerzt:
denn der Geist der Menschheit, nicht ihrer bevorzugten Kinder nur,
ist zur Erkenntniß berufen, und die Arbeit der Geister wird der Welt
eine Erkenntniß bringen, so hoch und tief, daß der stolzeste Geist sie nicht
durchstiegen, so reich, daß der manigfaltigste Geist nicht an ihr erlahmen,
so klar, daß der nüchternste Verstand sie nicht antasten, so einfach, daß die
kindlichste Seele sie erfassen, und so rein, daß das fromme Herz in ihr
seine Wohnstätte finden kann. In der Schule dieser Erkenntniß wird Friede
und Kampf, Ruhe und Bewewegung vereinigt sein. Darum meiden wir
den Kampf der Geister nicht, wenn er auch die Lebenden durch Nacht und
Wunden zu diesem Ziele führt! Aber den Sterbenden wird kein guter oder
weiser Mensch durch die Menge seines Zuspruches betrüben und zerstreuen,
weder der Denker den Gläubigen, noch der Fromme den, der nicht in der
Form des Glaubens denkt: denn der Sterbende muß mit seinem Herzen
Zwiesprache halten, dessen Schläge ihn im Laufe der Stunden beseligt
und verwundet haben, bis der letzte die fliehende Zeit für ihn stille
stehen heißt. Tragt ihn sanft aus der Schlacht, fernab vom Staube
und Gewühl der Kämpfenden, daß er am Rande des Hügels durch
die Abendröthe der Gegenwart hinausschaue in das Morgenroth der
Zukunft, für die wir kämpfen. Für ihn verstummt der Zank der
Meinungen und der Vorwurf der Einseitigkeit: er fällt ab von dem
unvollkommenen Leben seiner Zeit und geht über zu dem großen Heere
der Vollendeten, die im Frieden ruhen.

Am Tage vor dem letzten hatte der Sterbende sein weltliches
Vermächtniß für die Obrigkeit zu Ende geschrieben. Kein Lohn, nicht
einmal mehr der arme Trost einer Linderung winkte ihm, als er es

auch ihnen ſind Lichter aufgegangen, auch ſie ſind zu Gewißheiten und
Ueberzeugungen gekommen. Dann gerathen die Geiſter an einander:
der Mann des Wiſſens ſtößt den Glauben des Frommen zurück, und
der Mann des Glaubens erſchrickt vor der Ueberzeugung des Denkers;
ja, unter den Gläubigen ſelbſt, und bis in ihre engſten Kreiſe hinein,
iſt Unterſchied und Zwieſpalt, weil Keiner die gemeinſame Wahrheit,
zu der ſie ſich bekennen, ganz im Lichte des Andern ſchauen kann.
Dieſer Kampf der Geiſter verwundet das Herz, das die ganze Welt
in Frieden wiſſen möchte, aber das Herz kann den Menſchen nicht allein
leiten, denn es würde ihn jeder herben Schule, die ihm nöthig iſt,
entziehen. Der Kampf der Geiſter iſt gut, auch wenn er ſchmerzt:
denn der Geiſt der Menſchheit, nicht ihrer bevorzugten Kinder nur,
iſt zur Erkenntniß berufen, und die Arbeit der Geiſter wird der Welt
eine Erkenntniß bringen, ſo hoch und tief, daß der ſtolzeſte Geiſt ſie nicht
durchſtiegen, ſo reich, daß der manigfaltigſte Geiſt nicht an ihr erlahmen,
ſo klar, daß der nüchternſte Verſtand ſie nicht antaſten, ſo einfach, daß die
kindlichſte Seele ſie erfaſſen, und ſo rein, daß das fromme Herz in ihr
ſeine Wohnſtätte finden kann. In der Schule dieſer Erkenntniß wird Friede
und Kampf, Ruhe und Bewewegung vereinigt ſein. Darum meiden wir
den Kampf der Geiſter nicht, wenn er auch die Lebenden durch Nacht und
Wunden zu dieſem Ziele führt! Aber den Sterbenden wird kein guter oder
weiſer Menſch durch die Menge ſeines Zuſpruches betrüben und zerſtreuen,
weder der Denker den Gläubigen, noch der Fromme den, der nicht in der
Form des Glaubens denkt: denn der Sterbende muß mit ſeinem Herzen
Zwieſprache halten, deſſen Schläge ihn im Laufe der Stunden beſeligt
und verwundet haben, bis der letzte die fliehende Zeit für ihn ſtille
ſtehen heißt. Tragt ihn ſanft aus der Schlacht, fernab vom Staube
und Gewühl der Kämpfenden, daß er am Rande des Hügels durch
die Abendröthe der Gegenwart hinausſchaue in das Morgenroth der
Zukunft, für die wir kämpfen. Für ihn verſtummt der Zank der
Meinungen und der Vorwurf der Einſeitigkeit: er fällt ab von dem
unvollkommenen Leben ſeiner Zeit und geht über zu dem großen Heere
der Vollendeten, die im Frieden ruhen.

Am Tage vor dem letzten hatte der Sterbende ſein weltliches
Vermächtniß für die Obrigkeit zu Ende geſchrieben. Kein Lohn, nicht
einmal mehr der arme Troſt einer Linderung winkte ihm, als er es

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[498/0514] auch ihnen ſind Lichter aufgegangen, auch ſie ſind zu Gewißheiten und Ueberzeugungen gekommen. Dann gerathen die Geiſter an einander: der Mann des Wiſſens ſtößt den Glauben des Frommen zurück, und der Mann des Glaubens erſchrickt vor der Ueberzeugung des Denkers; ja, unter den Gläubigen ſelbſt, und bis in ihre engſten Kreiſe hinein, iſt Unterſchied und Zwieſpalt, weil Keiner die gemeinſame Wahrheit, zu der ſie ſich bekennen, ganz im Lichte des Andern ſchauen kann. Dieſer Kampf der Geiſter verwundet das Herz, das die ganze Welt in Frieden wiſſen möchte, aber das Herz kann den Menſchen nicht allein leiten, denn es würde ihn jeder herben Schule, die ihm nöthig iſt, entziehen. Der Kampf der Geiſter iſt gut, auch wenn er ſchmerzt: denn der Geiſt der Menſchheit, nicht ihrer bevorzugten Kinder nur, iſt zur Erkenntniß berufen, und die Arbeit der Geiſter wird der Welt eine Erkenntniß bringen, ſo hoch und tief, daß der ſtolzeſte Geiſt ſie nicht durchſtiegen, ſo reich, daß der manigfaltigſte Geiſt nicht an ihr erlahmen, ſo klar, daß der nüchternſte Verſtand ſie nicht antaſten, ſo einfach, daß die kindlichſte Seele ſie erfaſſen, und ſo rein, daß das fromme Herz in ihr ſeine Wohnſtätte finden kann. In der Schule dieſer Erkenntniß wird Friede und Kampf, Ruhe und Bewewegung vereinigt ſein. Darum meiden wir den Kampf der Geiſter nicht, wenn er auch die Lebenden durch Nacht und Wunden zu dieſem Ziele führt! Aber den Sterbenden wird kein guter oder weiſer Menſch durch die Menge ſeines Zuſpruches betrüben und zerſtreuen, weder der Denker den Gläubigen, noch der Fromme den, der nicht in der Form des Glaubens denkt: denn der Sterbende muß mit ſeinem Herzen Zwieſprache halten, deſſen Schläge ihn im Laufe der Stunden beſeligt und verwundet haben, bis der letzte die fliehende Zeit für ihn ſtille ſtehen heißt. Tragt ihn ſanft aus der Schlacht, fernab vom Staube und Gewühl der Kämpfenden, daß er am Rande des Hügels durch die Abendröthe der Gegenwart hinausſchaue in das Morgenroth der Zukunft, für die wir kämpfen. Für ihn verſtummt der Zank der Meinungen und der Vorwurf der Einſeitigkeit: er fällt ab von dem unvollkommenen Leben ſeiner Zeit und geht über zu dem großen Heere der Vollendeten, die im Frieden ruhen. Am Tage vor dem letzten hatte der Sterbende ſein weltliches Vermächtniß für die Obrigkeit zu Ende geſchrieben. Kein Lohn, nicht einmal mehr der arme Troſt einer Linderung winkte ihm, als er es

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Zitationshilfe: Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 498. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/514>, abgerufen am 24.11.2024.