Großen läßt man laufen -- man fürchtet, sie möchten ausgerottet werden. Wann man aber einem Vogel das Nest nimmt, so kann er keine Junge mehr hegen oder ziehen.
29. Juli 1760.
Arrestant in Vaihingen:
Joh. Friedr. Schwan."
Das gerichtliche Verfahren nahm unter dieser Zeit beständig seinen Gang, ja es wurde sehr beschleunigt, da man in Stuttgart fürchtete, der Seelenzustand des Gefangenen möchte nicht für die Dauer halt¬ bar sein. Nach geschlossener Untersuchung trat jetzt eine andere Rechts¬ form ein, welche, in der Verfassung und im Tübinger Vertrage be¬ gründet, bei peinlichen oder sehr schweren Fällen, deren sich ein Lan¬ desangehöriger schuldig gemacht, angewendet wurde, und einen Schatten der alten selbstherrlichen Volksgerichtsbarkeit enthielt. Der in Stadt und Amt allmächtige Beamte, nachdem er an die Regierung berichtet und von ihr die nöthigen Weisungen erhalten, verwandelte sich jetzt in einen bescheidenen Ankläger, der bei der Stadtgemeinde, die er sonst regierte, als Fiscal im Namen des Staates oder vielmehr des Herzogs gegen seinen Inquisiten Recht suchte. Als solcher mußte er den ge¬ wohnten Vorsitz in der obersten Gemeindebehörde, dem Gerichtscollegium, abtreten, und mit der Gemeinde, an die jetzt der Gerichtsstab vorüber¬ gehend zurückgekommen war, erhielt auch ihr ursprünglicher Vorsteher, der Bürgermeister, eben so vorübergehend seine alte Bedeutung wieder, indem er als Stabhalter den Vorsitz im Stadtgerichte übernahm. Dieses lud nun die beiden ungleichen Parteien vor und beraumte ihnen die Tagfahrt an. Da jedoch die "Dignität" des Beamten durch diese Stellung etwas gefährdet erscheinen mochte und er als Regent, Richter und oft auch Kellereibeamter des Bezirks, dazu als Haupt¬ vorsteher der Bezirksstadt sich mit Recht auf seine vielen Amtsgeschäfte berufen konnte, so war es ihm gestattet, sein Klägeramt einem Rechts¬ anwalt aus der Zahl der beeidigten Hofgerichtsadvocaten zu übertragen. Dem gleichen verpflichteten und vorrechtlich befähigten Stande mußte auch der Vertheidiger oder vielmehr Defensor angehören, den sich der Angeklagte wählen durfte, oder der ihm, wenn er von dieser Freiheit keinen Gebrauch machte, ex officio ernannt wurde. Am Rechtstage versammelte sich das peinliche Gericht im Gerichtssaale des Rathhauses. Ein in der Gerichtstafel befestigtes bloßes Schwert, das aufrecht mit
Großen läßt man laufen — man fürchtet, ſie möchten ausgerottet werden. Wann man aber einem Vogel das Neſt nimmt, ſo kann er keine Junge mehr hegen oder ziehen.
29. Juli 1760.
Arreſtant in Vaihingen:
Joh. Friedr. Schwan.“
Das gerichtliche Verfahren nahm unter dieſer Zeit beſtändig ſeinen Gang, ja es wurde ſehr beſchleunigt, da man in Stuttgart fürchtete, der Seelenzuſtand des Gefangenen möchte nicht für die Dauer halt¬ bar ſein. Nach geſchloſſener Unterſuchung trat jetzt eine andere Rechts¬ form ein, welche, in der Verfaſſung und im Tübinger Vertrage be¬ gründet, bei peinlichen oder ſehr ſchweren Fällen, deren ſich ein Lan¬ desangehöriger ſchuldig gemacht, angewendet wurde, und einen Schatten der alten ſelbſtherrlichen Volksgerichtsbarkeit enthielt. Der in Stadt und Amt allmächtige Beamte, nachdem er an die Regierung berichtet und von ihr die nöthigen Weiſungen erhalten, verwandelte ſich jetzt in einen beſcheidenen Ankläger, der bei der Stadtgemeinde, die er ſonſt regierte, als Fiscal im Namen des Staates oder vielmehr des Herzogs gegen ſeinen Inquiſiten Recht ſuchte. Als ſolcher mußte er den ge¬ wohnten Vorſitz in der oberſten Gemeindebehörde, dem Gerichtscollegium, abtreten, und mit der Gemeinde, an die jetzt der Gerichtsſtab vorüber¬ gehend zurückgekommen war, erhielt auch ihr urſprünglicher Vorſteher, der Bürgermeiſter, eben ſo vorübergehend ſeine alte Bedeutung wieder, indem er als Stabhalter den Vorſitz im Stadtgerichte übernahm. Dieſes lud nun die beiden ungleichen Parteien vor und beraumte ihnen die Tagfahrt an. Da jedoch die „Dignität“ des Beamten durch dieſe Stellung etwas gefährdet erſcheinen mochte und er als Regent, Richter und oft auch Kellereibeamter des Bezirks, dazu als Haupt¬ vorſteher der Bezirksſtadt ſich mit Recht auf ſeine vielen Amtsgeſchäfte berufen konnte, ſo war es ihm geſtattet, ſein Klägeramt einem Rechts¬ anwalt aus der Zahl der beeidigten Hofgerichtsadvocaten zu übertragen. Dem gleichen verpflichteten und vorrechtlich befähigten Stande mußte auch der Vertheidiger oder vielmehr Defenſor angehören, den ſich der Angeklagte wählen durfte, oder der ihm, wenn er von dieſer Freiheit keinen Gebrauch machte, ex officio ernannt wurde. Am Rechtstage verſammelte ſich das peinliche Gericht im Gerichtsſaale des Rathhauſes. Ein in der Gerichtstafel befeſtigtes bloßes Schwert, das aufrecht mit
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Großen läßt man laufen — man fürchtet, ſie möchten ausgerottet
werden. Wann man aber einem Vogel das Neſt nimmt, ſo kann er
keine Junge mehr hegen oder ziehen.
29. Juli 1760.
Arreſtant in Vaihingen:
Joh. Friedr. Schwan.“
Das gerichtliche Verfahren nahm unter dieſer Zeit beſtändig ſeinen
Gang, ja es wurde ſehr beſchleunigt, da man in Stuttgart fürchtete,
der Seelenzuſtand des Gefangenen möchte nicht für die Dauer halt¬
bar ſein. Nach geſchloſſener Unterſuchung trat jetzt eine andere Rechts¬
form ein, welche, in der Verfaſſung und im Tübinger Vertrage be¬
gründet, bei peinlichen oder ſehr ſchweren Fällen, deren ſich ein Lan¬
desangehöriger ſchuldig gemacht, angewendet wurde, und einen Schatten
der alten ſelbſtherrlichen Volksgerichtsbarkeit enthielt. Der in Stadt
und Amt allmächtige Beamte, nachdem er an die Regierung berichtet
und von ihr die nöthigen Weiſungen erhalten, verwandelte ſich jetzt
in einen beſcheidenen Ankläger, der bei der Stadtgemeinde, die er ſonſt
regierte, als Fiscal im Namen des Staates oder vielmehr des Herzogs
gegen ſeinen Inquiſiten Recht ſuchte. Als ſolcher mußte er den ge¬
wohnten Vorſitz in der oberſten Gemeindebehörde, dem Gerichtscollegium,
abtreten, und mit der Gemeinde, an die jetzt der Gerichtsſtab vorüber¬
gehend zurückgekommen war, erhielt auch ihr urſprünglicher Vorſteher,
der Bürgermeiſter, eben ſo vorübergehend ſeine alte Bedeutung wieder,
indem er als Stabhalter den Vorſitz im Stadtgerichte übernahm.
Dieſes lud nun die beiden ungleichen Parteien vor und beraumte
ihnen die Tagfahrt an. Da jedoch die „Dignität“ des Beamten durch
dieſe Stellung etwas gefährdet erſcheinen mochte und er als Regent,
Richter und oft auch Kellereibeamter des Bezirks, dazu als Haupt¬
vorſteher der Bezirksſtadt ſich mit Recht auf ſeine vielen Amtsgeſchäfte
berufen konnte, ſo war es ihm geſtattet, ſein Klägeramt einem Rechts¬
anwalt aus der Zahl der beeidigten Hofgerichtsadvocaten zu übertragen.
Dem gleichen verpflichteten und vorrechtlich befähigten Stande mußte
auch der Vertheidiger oder vielmehr Defenſor angehören, den ſich der
Angeklagte wählen durfte, oder der ihm, wenn er von dieſer Freiheit
keinen Gebrauch machte, ex officio ernannt wurde. Am Rechtstage
verſammelte ſich das peinliche Gericht im Gerichtsſaale des Rathhauſes.
Ein in der Gerichtstafel befeſtigtes bloßes Schwert, das aufrecht mit
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Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 489. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/505>, abgerufen am 23.11.2024.
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