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Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855.

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nämliche Erzähler, dem es gar nicht einmal einfiel, an der Wahrheit jener
Mittheilung zu zweifeln, sagt bei einer andern Gelegenheit von ihm, Auf¬
richtigkeit sei, selbst in seinen ruchlosesten Jahren, ein Hauptzug in ihm ge¬
wesen. Oft, erzählt derselbe bei der Darstellung seines innern Zustandes
während seines Aufenthaltes unter den Jaunern, oft sei er Nachts im
Traume aufgewacht, nachdem er vergebens durch Berauschung sein Gewissen
einzuschläfern gesucht, habe geschrieen, geweint, gebetet, bis sein Weib an
seiner Seite ihn durch Spöttereien über seine Feigheit wieder zum Schwei¬
gen gebracht habe. Oft sei er auf die Kniee gefallen und habe den Himmel
um Gnade zu seiner Besserung angefleht. Oft sogar sei er unter dem
Galgen niedergeknieet und habe Gott gebeten, ihn aus diesem Leben
heraus zu führen. Dann habe er wieder sein Weib genöthigt, auf die
Kniee zu fallen und mit ihm zu beten, in der Hoffnung, daß ihre,
wie er gedacht, noch weniger befleckte Seele eher Erhörung finden
würde. Oft sei er mit Schrecken aus dem Schlummer aufgefahren,
habe geseufzt und gebetet, und wenn sein Weib gefragt, was ihm
fehle, ihr allemal geantwortet, er denke an den Waisenpfarrer zu
Ludwigsburg. "O Weib", habe er weinend und seufzend gesagt, "wenn
du wüßtest, was das für ein Mann war, was er mich gelehrt, wie
er mich ermahnt hat -- o Gott, wenn er Recht hat, so sind wir
Beide verloren, und ach, gewiß, er hat Recht!" Als er einst zu
Offenburg gefangen gelegen, habe er mit einem von der Wand ab¬
gebrochenen Stückchen Speiß ein Crucifix gemalt, dasselbe, um sich
stets an den Gekreuzigten zu erinnern, beständig angeschaut, geküßt
und mit Thränen benetzt. "Damals" -- dies sind, sagt sein Geschicht¬
schreiber, seine eigenen Worte -- "versprach ich vor dem Bilde meines
Heilandes Besserung, und nahm mir fest vor, eher mein Brod zu
betteln, als ihn weiter zu beleidigen. Ich netzte dieses Bild mit Thrä¬
nen, ich küßte ihm die Hände und bat um meine Befreiung. Sie er¬
folgte, ich war so glücklich, daß ich entrann, oder vielmehr so unglück¬
lich, daß ich Gelegenheit bekam, meine vorigen Sünden mit neuen zu
vermehren. Einige Tage that ich gut. Aber ich konnte keine bösen
Tage leiden. Nur allzubald war der vorige gute Vorsatz verschwunden,
und ich war zu meinem Schaden klug genug, Entschuldigung für
meine Sünden zu finden, und mich manchmal gar zu bereden, daß
Alles Thorheit sei, was man vielleicht bloß um der Einkünfte willen

nämliche Erzähler, dem es gar nicht einmal einfiel, an der Wahrheit jener
Mittheilung zu zweifeln, ſagt bei einer andern Gelegenheit von ihm, Auf¬
richtigkeit ſei, ſelbſt in ſeinen ruchloſeſten Jahren, ein Hauptzug in ihm ge¬
weſen. Oft, erzählt derſelbe bei der Darſtellung ſeines innern Zuſtandes
während ſeines Aufenthaltes unter den Jaunern, oft ſei er Nachts im
Traume aufgewacht, nachdem er vergebens durch Berauſchung ſein Gewiſſen
einzuſchläfern geſucht, habe geſchrieen, geweint, gebetet, bis ſein Weib an
ſeiner Seite ihn durch Spöttereien über ſeine Feigheit wieder zum Schwei¬
gen gebracht habe. Oft ſei er auf die Kniee gefallen und habe den Himmel
um Gnade zu ſeiner Beſſerung angefleht. Oft ſogar ſei er unter dem
Galgen niedergeknieet und habe Gott gebeten, ihn aus dieſem Leben
heraus zu führen. Dann habe er wieder ſein Weib genöthigt, auf die
Kniee zu fallen und mit ihm zu beten, in der Hoffnung, daß ihre,
wie er gedacht, noch weniger befleckte Seele eher Erhörung finden
würde. Oft ſei er mit Schrecken aus dem Schlummer aufgefahren,
habe geſeufzt und gebetet, und wenn ſein Weib gefragt, was ihm
fehle, ihr allemal geantwortet, er denke an den Waiſenpfarrer zu
Ludwigsburg. „O Weib“, habe er weinend und ſeufzend geſagt, „wenn
du wüßteſt, was das für ein Mann war, was er mich gelehrt, wie
er mich ermahnt hat — o Gott, wenn er Recht hat, ſo ſind wir
Beide verloren, und ach, gewiß, er hat Recht!“ Als er einſt zu
Offenburg gefangen gelegen, habe er mit einem von der Wand ab¬
gebrochenen Stückchen Speiß ein Crucifix gemalt, daſſelbe, um ſich
ſtets an den Gekreuzigten zu erinnern, beſtändig angeſchaut, geküßt
und mit Thränen benetzt. „Damals“ — dies ſind, ſagt ſein Geſchicht¬
ſchreiber, ſeine eigenen Worte — „verſprach ich vor dem Bilde meines
Heilandes Beſſerung, und nahm mir feſt vor, eher mein Brod zu
betteln, als ihn weiter zu beleidigen. Ich netzte dieſes Bild mit Thrä¬
nen, ich küßte ihm die Hände und bat um meine Befreiung. Sie er¬
folgte, ich war ſo glücklich, daß ich entrann, oder vielmehr ſo unglück¬
lich, daß ich Gelegenheit bekam, meine vorigen Sünden mit neuen zu
vermehren. Einige Tage that ich gut. Aber ich konnte keine böſen
Tage leiden. Nur allzubald war der vorige gute Vorſatz verſchwunden,
und ich war zu meinem Schaden klug genug, Entſchuldigung für
meine Sünden zu finden, und mich manchmal gar zu bereden, daß
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Zitationshilfe: Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 457. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/473>, abgerufen am 22.11.2024.