Obwohl frei ohne jedes andre Maß und Ziel, als das sie selbst sich setzt, folgt doch die Dichtung gern dem Gefangenen in die Kerkerzelle und zum Schaffott, aber sie verstummt unter dem Geräusche der christlich-deutschen Justiz. Wie sie es verschmäht, ihm in die schmutzigen Höhlen des gewerbsmäßigen Verbrechens zu folgen, so bleibt sie auch vor jenen verschlossenen Thüren stehen, hinter welchen das Leben des Menschen stückweise an die Paragraphen eines fremden, todten Rechts gehalten wird. Sie läßt an ihrer Statt ihre Schwester mit dem stil¬ len unbewegten Auge, die Geschichtschreibung, eintreten und in dem Actenstaube wühlen.
Drei Jahre waren seit dem Tode des Fischers verflossen, der den Amtmann von Ebersbach und den Vogt von Göppingen gegen den Meuchelmörder in Bewegung gesetzt hatte. Es gab keine Vögte mehr im Lande, der Herzog hatte ihnen den Oberamtmannstitel ertheilt, weil man, wie er sich in seinem Rescripte ausdrückte, den vorgesetzten Stabsbeamten zu ihrer Amtsführung, Erhaltung der fürstlichen Rechte und Vollziehung der Regierungsbefehle niemals zu viel amtliche Au¬ torität und zu solcher niemals zu viel Mittel an die Hand geben könne, die bisherige Benennung Vogt aber die wahre Dignität und den großen Umfang ihres Amtes zu wenig ausdrücke, dieses vielmehr in seinem Werth, besonders gegen Fremde, um ein Großes herabsetze.
So war auch der Vogt von Vaihingen an der Enz seit einem Jahre Oberamtmann geworden, als er eine Reihe von Protokollen mit dem folgenden begann:
"Vayhingen. Actum den 7. Martii 1760, vor dasigem Oberamt, in Gegenwart der beeden Gerichtsverwandten Matheus Brechten und Joseph Luipoldten, als Urkunds-Persohnen. Gestern Abends, um un¬ gefähr 5 Uhr, geschahe es, daß von dem Brucken-Thorwart, Christian Freppe, ein unbekannter Kerl, nachdeme ihm jener vorher die Pässe
38.
Obwohl frei ohne jedes andre Maß und Ziel, als das ſie ſelbſt ſich ſetzt, folgt doch die Dichtung gern dem Gefangenen in die Kerkerzelle und zum Schaffott, aber ſie verſtummt unter dem Geräuſche der chriſtlich-deutſchen Juſtiz. Wie ſie es verſchmäht, ihm in die ſchmutzigen Höhlen des gewerbsmäßigen Verbrechens zu folgen, ſo bleibt ſie auch vor jenen verſchloſſenen Thüren ſtehen, hinter welchen das Leben des Menſchen ſtückweiſe an die Paragraphen eines fremden, todten Rechts gehalten wird. Sie läßt an ihrer Statt ihre Schweſter mit dem ſtil¬ len unbewegten Auge, die Geſchichtſchreibung, eintreten und in dem Actenſtaube wühlen.
Drei Jahre waren ſeit dem Tode des Fiſchers verfloſſen, der den Amtmann von Ebersbach und den Vogt von Göppingen gegen den Meuchelmörder in Bewegung geſetzt hatte. Es gab keine Vögte mehr im Lande, der Herzog hatte ihnen den Oberamtmannstitel ertheilt, weil man, wie er ſich in ſeinem Reſcripte ausdrückte, den vorgeſetzten Stabsbeamten zu ihrer Amtsführung, Erhaltung der fürſtlichen Rechte und Vollziehung der Regierungsbefehle niemals zu viel amtliche Au¬ torität und zu ſolcher niemals zu viel Mittel an die Hand geben könne, die bisherige Benennung Vogt aber die wahre Dignität und den großen Umfang ihres Amtes zu wenig ausdrücke, dieſes vielmehr in ſeinem Werth, beſonders gegen Fremde, um ein Großes herabſetze.
So war auch der Vogt von Vaihingen an der Enz ſeit einem Jahre Oberamtmann geworden, als er eine Reihe von Protokollen mit dem folgenden begann:
„Vayhingen. Actum den 7. Martii 1760, vor daſigem Oberamt, in Gegenwart der beeden Gerichtsverwandten Matheus Brechten und Joſeph Luipoldten, als Urkunds-Perſohnen. Geſtern Abends, um un¬ gefähr 5 Uhr, geſchahe es, daß von dem Brucken-Thorwart, Chriſtian Freppe, ein unbekannter Kerl, nachdeme ihm jener vorher die Pässe
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0457"n="441"/></div><divn="1"><head>38.<lb/></head><p>Obwohl frei ohne jedes andre Maß und Ziel, als das ſie ſelbſt<lb/>ſich ſetzt, folgt doch die Dichtung gern dem Gefangenen in die Kerkerzelle<lb/>
und zum Schaffott, aber ſie verſtummt unter dem Geräuſche der<lb/>
chriſtlich-deutſchen Juſtiz. Wie ſie es verſchmäht, ihm in die ſchmutzigen<lb/>
Höhlen des gewerbsmäßigen Verbrechens zu folgen, ſo bleibt ſie auch<lb/>
vor jenen verſchloſſenen Thüren ſtehen, hinter welchen das Leben des<lb/>
Menſchen ſtückweiſe an die Paragraphen eines fremden, todten Rechts<lb/>
gehalten wird. Sie läßt an ihrer Statt ihre Schweſter mit dem ſtil¬<lb/>
len unbewegten Auge, die Geſchichtſchreibung, eintreten und in dem<lb/>
Actenſtaube wühlen.</p><lb/><p>Drei Jahre waren ſeit dem Tode des Fiſchers verfloſſen, der den<lb/>
Amtmann von Ebersbach und den Vogt von Göppingen gegen den<lb/>
Meuchelmörder in Bewegung geſetzt hatte. Es gab keine Vögte mehr<lb/>
im Lande, der Herzog hatte ihnen den Oberamtmannstitel ertheilt,<lb/>
weil man, wie er ſich in ſeinem Reſcripte ausdrückte, den vorgeſetzten<lb/>
Stabsbeamten zu ihrer Amtsführung, Erhaltung der fürſtlichen Rechte<lb/>
und Vollziehung der Regierungsbefehle niemals zu viel amtliche Au¬<lb/>
torität und zu ſolcher niemals zu viel Mittel an die Hand geben<lb/>
könne, die bisherige Benennung Vogt aber die wahre Dignität und<lb/>
den großen Umfang ihres Amtes zu wenig ausdrücke, dieſes vielmehr<lb/>
in ſeinem Werth, beſonders gegen Fremde, um ein Großes herabſetze.</p><lb/><p>So war auch der Vogt von Vaihingen an der Enz ſeit einem<lb/>
Jahre Oberamtmann geworden, als er eine Reihe von Protokollen<lb/>
mit dem folgenden begann:</p><lb/><p>„Vayhingen. <hirendition="#aq">Actum</hi> den 7. <hirendition="#aq">Martii</hi> 1760, vor daſigem Oberamt,<lb/>
in Gegenwart der beeden Gerichtsverwandten Matheus Brechten und<lb/>
Joſeph Luipoldten, als Urkunds-Perſohnen. Geſtern Abends, um un¬<lb/>
gefähr 5 Uhr, geſchahe es, daß von dem Brucken-Thorwart, Chriſtian<lb/>
Freppe, ein unbekannter Kerl, nachdeme ihm jener vorher die <hirendition="#aq">Pässe</hi><lb/></p></div></body></text></TEI>
[441/0457]
38.
Obwohl frei ohne jedes andre Maß und Ziel, als das ſie ſelbſt
ſich ſetzt, folgt doch die Dichtung gern dem Gefangenen in die Kerkerzelle
und zum Schaffott, aber ſie verſtummt unter dem Geräuſche der
chriſtlich-deutſchen Juſtiz. Wie ſie es verſchmäht, ihm in die ſchmutzigen
Höhlen des gewerbsmäßigen Verbrechens zu folgen, ſo bleibt ſie auch
vor jenen verſchloſſenen Thüren ſtehen, hinter welchen das Leben des
Menſchen ſtückweiſe an die Paragraphen eines fremden, todten Rechts
gehalten wird. Sie läßt an ihrer Statt ihre Schweſter mit dem ſtil¬
len unbewegten Auge, die Geſchichtſchreibung, eintreten und in dem
Actenſtaube wühlen.
Drei Jahre waren ſeit dem Tode des Fiſchers verfloſſen, der den
Amtmann von Ebersbach und den Vogt von Göppingen gegen den
Meuchelmörder in Bewegung geſetzt hatte. Es gab keine Vögte mehr
im Lande, der Herzog hatte ihnen den Oberamtmannstitel ertheilt,
weil man, wie er ſich in ſeinem Reſcripte ausdrückte, den vorgeſetzten
Stabsbeamten zu ihrer Amtsführung, Erhaltung der fürſtlichen Rechte
und Vollziehung der Regierungsbefehle niemals zu viel amtliche Au¬
torität und zu ſolcher niemals zu viel Mittel an die Hand geben
könne, die bisherige Benennung Vogt aber die wahre Dignität und
den großen Umfang ihres Amtes zu wenig ausdrücke, dieſes vielmehr
in ſeinem Werth, beſonders gegen Fremde, um ein Großes herabſetze.
So war auch der Vogt von Vaihingen an der Enz ſeit einem
Jahre Oberamtmann geworden, als er eine Reihe von Protokollen
mit dem folgenden begann:
„Vayhingen. Actum den 7. Martii 1760, vor daſigem Oberamt,
in Gegenwart der beeden Gerichtsverwandten Matheus Brechten und
Joſeph Luipoldten, als Urkunds-Perſohnen. Geſtern Abends, um un¬
gefähr 5 Uhr, geſchahe es, daß von dem Brucken-Thorwart, Chriſtian
Freppe, ein unbekannter Kerl, nachdeme ihm jener vorher die Pässe
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 441. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/457>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.