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Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855.

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zerschlagen; aber sein Körper fand die Ruhe nicht, die seiner Seele
fehlte. Er hörte vom Thale herauf den Schlag der Glocke und den
Ruf des Wächters in regelmäßigen Absätzen, die den unerbittlichen
Gang der Zeit verkündigten. Er sah den Mond über den Himmel
wandeln und seinem Ziele näher und näher sinken; an seinem weiten
Wege konnte er sehen, wie lange schon die Welt der Ruhe pflegte,
die ihn floh. Die Sterne glänzten in der herrlichen Sommernacht wie
eine goldne Schrift auf dunkelblauem Grunde; aber mit seinem
stumpfen Blick konnte er sie nicht lesen, und kopfschüttelnd ging er
nach dem Walde zurück.

Sein ganzes Schicksal zog in dieser Nacht an seiner Seele vor¬
über; die Vergangenheit schmerzte, stachelte ihn, und die Zukunft hing
wie eine wetterschwangere Wolke vor seinem Auge. Es sah wüst und
wild in seinem Innern aus. Vermöge seiner Anlagen und seiner Er¬
ziehung wußte er recht wohl zu unterscheiden, was gut und böse sei,
und diese Erkenntniß redete zu ihm in der Sprache der überlieferten
Religion, die er mit der Muttermilch eingesogen hatte. Obwohl er
mit der Kirche oder vielmehr mit dem Pfarrer haderte, und das
Maulchristenthum der Meisten um ihn her verachtete, so war er doch
kein Freigeist; woher hätte er auch, der ungeschulte Denker, das Zeug
dazu nehmen sollen? Er glaubte fest an seinen Heiland, wie Alles
um ihn her, und seine von Noth und Schuld gepeinigte Seele schrie
oft gen Himmel auf; aber er war das Kind eines aus hartem Stoffe
geschaffenen Volkes, das oft das zarteste Gebet und den rohesten Fluch
beinahe in Einem Athem auf die Lippen bringt. Ein beißender Witz,
ein Anreiz zur Lebenslust oder eine Wallung des Zornes konnte die
erschütterndste Wirkung des Heiligen im Nu verwischen, und seine An¬
klage gegen die Welt, daß sie nicht nach den Geboten des Glaubens
lebe, lieh auch ihm die Entschuldigung, daß ein ächtes Christenthum
die Kräfte des Menschen übersteige. Dennoch brannten ihn jene from¬
men Lehren, welche ihm am eindringlichsten von seiner Mutter eingeprägt
waren, wie mit Flammenschrift in seine Seele, die verzagend ihr Ver¬
dammungsurtheil in ihnen las. Er konnte es sich nicht bergen, daß
er von einer verworfenen That herkam und einem verworfenen Leben
entgegenging, in welchem nicht mehr bloß augenblickliche Noth oder
Leidenschaft vorübergehend das Schiffchen mit einem mißfarbigen

zerſchlagen; aber ſein Körper fand die Ruhe nicht, die ſeiner Seele
fehlte. Er hörte vom Thale herauf den Schlag der Glocke und den
Ruf des Wächters in regelmäßigen Abſätzen, die den unerbittlichen
Gang der Zeit verkündigten. Er ſah den Mond über den Himmel
wandeln und ſeinem Ziele näher und näher ſinken; an ſeinem weiten
Wege konnte er ſehen, wie lange ſchon die Welt der Ruhe pflegte,
die ihn floh. Die Sterne glänzten in der herrlichen Sommernacht wie
eine goldne Schrift auf dunkelblauem Grunde; aber mit ſeinem
ſtumpfen Blick konnte er ſie nicht leſen, und kopfſchüttelnd ging er
nach dem Walde zurück.

Sein ganzes Schickſal zog in dieſer Nacht an ſeiner Seele vor¬
über; die Vergangenheit ſchmerzte, ſtachelte ihn, und die Zukunft hing
wie eine wetterſchwangere Wolke vor ſeinem Auge. Es ſah wüſt und
wild in ſeinem Innern aus. Vermöge ſeiner Anlagen und ſeiner Er¬
ziehung wußte er recht wohl zu unterſcheiden, was gut und böſe ſei,
und dieſe Erkenntniß redete zu ihm in der Sprache der überlieferten
Religion, die er mit der Muttermilch eingeſogen hatte. Obwohl er
mit der Kirche oder vielmehr mit dem Pfarrer haderte, und das
Maulchriſtenthum der Meiſten um ihn her verachtete, ſo war er doch
kein Freigeiſt; woher hätte er auch, der ungeſchulte Denker, das Zeug
dazu nehmen ſollen? Er glaubte feſt an ſeinen Heiland, wie Alles
um ihn her, und ſeine von Noth und Schuld gepeinigte Seele ſchrie
oft gen Himmel auf; aber er war das Kind eines aus hartem Stoffe
geſchaffenen Volkes, das oft das zarteſte Gebet und den roheſten Fluch
beinahe in Einem Athem auf die Lippen bringt. Ein beißender Witz,
ein Anreiz zur Lebensluſt oder eine Wallung des Zornes konnte die
erſchütterndſte Wirkung des Heiligen im Nu verwiſchen, und ſeine An¬
klage gegen die Welt, daß ſie nicht nach den Geboten des Glaubens
lebe, lieh auch ihm die Entſchuldigung, daß ein ächtes Chriſtenthum
die Kräfte des Menſchen überſteige. Dennoch brannten ihn jene from¬
men Lehren, welche ihm am eindringlichſten von ſeiner Mutter eingeprägt
waren, wie mit Flammenſchrift in ſeine Seele, die verzagend ihr Ver¬
dammungsurtheil in ihnen las. Er konnte es ſich nicht bergen, daß
er von einer verworfenen That herkam und einem verworfenen Leben
entgegenging, in welchem nicht mehr bloß augenblickliche Noth oder
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[432/0448] zerſchlagen; aber ſein Körper fand die Ruhe nicht, die ſeiner Seele fehlte. Er hörte vom Thale herauf den Schlag der Glocke und den Ruf des Wächters in regelmäßigen Abſätzen, die den unerbittlichen Gang der Zeit verkündigten. Er ſah den Mond über den Himmel wandeln und ſeinem Ziele näher und näher ſinken; an ſeinem weiten Wege konnte er ſehen, wie lange ſchon die Welt der Ruhe pflegte, die ihn floh. Die Sterne glänzten in der herrlichen Sommernacht wie eine goldne Schrift auf dunkelblauem Grunde; aber mit ſeinem ſtumpfen Blick konnte er ſie nicht leſen, und kopfſchüttelnd ging er nach dem Walde zurück. Sein ganzes Schickſal zog in dieſer Nacht an ſeiner Seele vor¬ über; die Vergangenheit ſchmerzte, ſtachelte ihn, und die Zukunft hing wie eine wetterſchwangere Wolke vor ſeinem Auge. Es ſah wüſt und wild in ſeinem Innern aus. Vermöge ſeiner Anlagen und ſeiner Er¬ ziehung wußte er recht wohl zu unterſcheiden, was gut und böſe ſei, und dieſe Erkenntniß redete zu ihm in der Sprache der überlieferten Religion, die er mit der Muttermilch eingeſogen hatte. Obwohl er mit der Kirche oder vielmehr mit dem Pfarrer haderte, und das Maulchriſtenthum der Meiſten um ihn her verachtete, ſo war er doch kein Freigeiſt; woher hätte er auch, der ungeſchulte Denker, das Zeug dazu nehmen ſollen? Er glaubte feſt an ſeinen Heiland, wie Alles um ihn her, und ſeine von Noth und Schuld gepeinigte Seele ſchrie oft gen Himmel auf; aber er war das Kind eines aus hartem Stoffe geſchaffenen Volkes, das oft das zarteſte Gebet und den roheſten Fluch beinahe in Einem Athem auf die Lippen bringt. Ein beißender Witz, ein Anreiz zur Lebensluſt oder eine Wallung des Zornes konnte die erſchütterndſte Wirkung des Heiligen im Nu verwiſchen, und ſeine An¬ klage gegen die Welt, daß ſie nicht nach den Geboten des Glaubens lebe, lieh auch ihm die Entſchuldigung, daß ein ächtes Chriſtenthum die Kräfte des Menſchen überſteige. Dennoch brannten ihn jene from¬ men Lehren, welche ihm am eindringlichſten von ſeiner Mutter eingeprägt waren, wie mit Flammenſchrift in ſeine Seele, die verzagend ihr Ver¬ dammungsurtheil in ihnen las. Er konnte es ſich nicht bergen, daß er von einer verworfenen That herkam und einem verworfenen Leben entgegenging, in welchem nicht mehr bloß augenblickliche Noth oder Leidenſchaft vorübergehend das Schiffchen mit einem mißfarbigen

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Zitationshilfe: Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 432. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/448>, abgerufen am 22.11.2024.