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Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855.

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herabfallenden weißen Halstuchzipfeln, drückte seine kleinen Aeuglein
listig zusammen und ließ dabei die vorspringenden wulstigen Lippen
offen stehen, so daß sie gleichsam einen stummen, aber sichtbaren
Seufzer eines ehrbaren Verwerfungsurtheils bildeten; die beiden Frauen
schlugen die Augen nieder und schienen sich kaum entschließen zu können,
dem Bruder die Hand zu geben, als dieser mit einem treuherzigen
"Prosit's Neujahr!" auf sie zugegangen kam. Der Sonnenwirth sah
dieser gezwungenen Begrüßung etwas verwundert zu; er kannte augen¬
scheinlich den Grund derselben noch nicht, mochte aber denken, sein
Sohn werde es bei der Verwandtschaft durch irgend ein nicht gar zu
bedeutendes Ungeschick verschüttet haben; wenigstens ließ er das, was
vor seinen Augen vorging, geschehen, ohne sich mit Fragen darein zu
mischen. Friedrich aber hatte sogleich an dem zuverlässigsten Wetter¬
glase erkannt, daß etwas Schweres gegen ihn im Werke sein müsse,
nämlich an dem gelben Gesichte seiner Stiefmutter, welchem ein offe¬
ner triumphirender Hohn eine Art von Blüthe verlieh. Es war ihm
übrigens jede Verlegenheit erspart, denn die Kinder des Krämers, die
dieser mitgebracht hatte, deckten mit ihrem jubelnden Empfange alle
Lücken in der Liebe der Erwachsenen zu: sie hatten dem Großvater
geschriebene Neujahrswünsche überreicht und als Gegengeschenk neue
Kreuzer nebst mürbem Gebäck erhalten; jetzt sprangen sie im vollen
Jubel ihres Glückes an dem kinderfreundlichen jungen Oheim empor
und nahmen ihn in Beschlag, bis das Essen aufgetragen war.

So lange das Gesinde, das diesmal an einem besondern Tische
speiste, sich in der Stube befand, wurde von der Witterung und von
der heutigen Predigt gesprochen, welche sich der mit einem guten Ge¬
dächtniß begabte Chirurg sehr ausführlich anzueignen gewußt hatte.
Nachdem aber Knechte und Mägde sich entfernt und auch die Kinder
auf Befehl ihres Vaters, jedes ein Stückchen Kuchen in der Hand
die Stube verlassen hatten, begann dieser mit muthwilligem Blinzeln:
Ist der Schwager heut' auch in der Kirche gewesen?

Friedrich wurde roth. Ich hab' Gott anders gedient, sagte er.

Vielleicht zu Haus eine schöne Predigt gelesen,[ - 1 Zeichen fehlt]oder ein Stück in
Arndt's Wahrem Christenthum?

Friedrich schwieg, der inquisitorische Ton, aus welchem eine ge¬

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herabfallenden weißen Halstuchzipfeln, drückte ſeine kleinen Aeuglein
liſtig zuſammen und ließ dabei die vorſpringenden wulſtigen Lippen
offen ſtehen, ſo daß ſie gleichſam einen ſtummen, aber ſichtbaren
Seufzer eines ehrbaren Verwerfungsurtheils bildeten; die beiden Frauen
ſchlugen die Augen nieder und ſchienen ſich kaum entſchließen zu können,
dem Bruder die Hand zu geben, als dieſer mit einem treuherzigen
„Proſit's Neujahr!“ auf ſie zugegangen kam. Der Sonnenwirth ſah
dieſer gezwungenen Begrüßung etwas verwundert zu; er kannte augen¬
ſcheinlich den Grund derſelben noch nicht, mochte aber denken, ſein
Sohn werde es bei der Verwandtſchaft durch irgend ein nicht gar zu
bedeutendes Ungeſchick verſchüttet haben; wenigſtens ließ er das, was
vor ſeinen Augen vorging, geſchehen, ohne ſich mit Fragen darein zu
miſchen. Friedrich aber hatte ſogleich an dem zuverläſſigſten Wetter¬
glaſe erkannt, daß etwas Schweres gegen ihn im Werke ſein müſſe,
nämlich an dem gelben Geſichte ſeiner Stiefmutter, welchem ein offe¬
ner triumphirender Hohn eine Art von Blüthe verlieh. Es war ihm
übrigens jede Verlegenheit erſpart, denn die Kinder des Krämers, die
dieſer mitgebracht hatte, deckten mit ihrem jubelnden Empfange alle
Lücken in der Liebe der Erwachſenen zu: ſie hatten dem Großvater
geſchriebene Neujahrswünſche überreicht und als Gegengeſchenk neue
Kreuzer nebſt mürbem Gebäck erhalten; jetzt ſprangen ſie im vollen
Jubel ihres Glückes an dem kinderfreundlichen jungen Oheim empor
und nahmen ihn in Beſchlag, bis das Eſſen aufgetragen war.

So lange das Geſinde, das diesmal an einem beſondern Tiſche
ſpeiste, ſich in der Stube befand, wurde von der Witterung und von
der heutigen Predigt geſprochen, welche ſich der mit einem guten Ge¬
dächtniß begabte Chirurg ſehr ausführlich anzueignen gewußt hatte.
Nachdem aber Knechte und Mägde ſich entfernt und auch die Kinder
auf Befehl ihres Vaters, jedes ein Stückchen Kuchen in der Hand
die Stube verlaſſen hatten, begann dieſer mit muthwilligem Blinzeln:
Iſt der Schwager heut' auch in der Kirche geweſen?

Friedrich wurde roth. Ich hab' Gott anders gedient, ſagte er.

Vielleicht zu Haus eine ſchöne Predigt geleſen,[ – 1 Zeichen fehlt]oder ein Stück in
Arndt's Wahrem Chriſtenthum?

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[131/0147] herabfallenden weißen Halstuchzipfeln, drückte ſeine kleinen Aeuglein liſtig zuſammen und ließ dabei die vorſpringenden wulſtigen Lippen offen ſtehen, ſo daß ſie gleichſam einen ſtummen, aber ſichtbaren Seufzer eines ehrbaren Verwerfungsurtheils bildeten; die beiden Frauen ſchlugen die Augen nieder und ſchienen ſich kaum entſchließen zu können, dem Bruder die Hand zu geben, als dieſer mit einem treuherzigen „Proſit's Neujahr!“ auf ſie zugegangen kam. Der Sonnenwirth ſah dieſer gezwungenen Begrüßung etwas verwundert zu; er kannte augen¬ ſcheinlich den Grund derſelben noch nicht, mochte aber denken, ſein Sohn werde es bei der Verwandtſchaft durch irgend ein nicht gar zu bedeutendes Ungeſchick verſchüttet haben; wenigſtens ließ er das, was vor ſeinen Augen vorging, geſchehen, ohne ſich mit Fragen darein zu miſchen. Friedrich aber hatte ſogleich an dem zuverläſſigſten Wetter¬ glaſe erkannt, daß etwas Schweres gegen ihn im Werke ſein müſſe, nämlich an dem gelben Geſichte ſeiner Stiefmutter, welchem ein offe¬ ner triumphirender Hohn eine Art von Blüthe verlieh. Es war ihm übrigens jede Verlegenheit erſpart, denn die Kinder des Krämers, die dieſer mitgebracht hatte, deckten mit ihrem jubelnden Empfange alle Lücken in der Liebe der Erwachſenen zu: ſie hatten dem Großvater geſchriebene Neujahrswünſche überreicht und als Gegengeſchenk neue Kreuzer nebſt mürbem Gebäck erhalten; jetzt ſprangen ſie im vollen Jubel ihres Glückes an dem kinderfreundlichen jungen Oheim empor und nahmen ihn in Beſchlag, bis das Eſſen aufgetragen war. So lange das Geſinde, das diesmal an einem beſondern Tiſche ſpeiste, ſich in der Stube befand, wurde von der Witterung und von der heutigen Predigt geſprochen, welche ſich der mit einem guten Ge¬ dächtniß begabte Chirurg ſehr ausführlich anzueignen gewußt hatte. Nachdem aber Knechte und Mägde ſich entfernt und auch die Kinder auf Befehl ihres Vaters, jedes ein Stückchen Kuchen in der Hand die Stube verlaſſen hatten, begann dieſer mit muthwilligem Blinzeln: Iſt der Schwager heut' auch in der Kirche geweſen? Friedrich wurde roth. Ich hab' Gott anders gedient, ſagte er. Vielleicht zu Haus eine ſchöne Predigt geleſen,_oder ein Stück in Arndt's Wahrem Chriſtenthum? Friedrich ſchwieg, der inquiſitoriſche Ton, aus welchem eine ge¬ 9 *

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Zitationshilfe: Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/147>, abgerufen am 24.11.2024.