Kugler, Franz: Die Incantada. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 81–146. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.allen Reiz der Weiber unempfindlich gewesen. Beim Anblick der schönen Königin flammte zum ersten Mal die Leidenschaft mächtig in ihm empor; seine Krone und sein Reich dünkten ihn nichts dagegen, wenn er ihre Liebe gewinnen könnte. Aber auch die Königin war von gleicher Leidenschaft gegen ihn entzündet worden, denn viel herrlicher strahlte das Auge Alexander's, als der Blick des alternden Königs von Thracien. Bald hatten sich Beide mit einander verständigt. Alexander wußte die günstigen Stunden auszuspähen, um der schönen Königin durch die Gallerie des Säulenganges ungesehen seinen Besuch machen und in ihren Armen finden zu können, weß sein Herz begehrte. Doch waren Lauscher zur Hand, welche dem Könige von Thracien das Liebesspiel bald verriethen. Da erfüllte ihn die Wuth der Eifersucht, und er beschloß, sich an Alexander auf furchtbare Weise zu rächen. Unter den Männern seines Gefolges befand sich ein Zauberer aus dem Pontus; dieser berechnete mit geheimer Wissenschaft die Stunde, zu welcher Alexander der Königin seinen nächsten Besuch zu machen gedachte, und schleuderte dann seine Zaubersprüche auf die Gallerie, die einen Jeden, der zu derselben Stunde darüber hinging, augenblicklich in Stein verwandeln sollten. Bei Alexander aber war ein weiser Mann, Aristoteles geheißen, der noch viel tiefere Wissenschaft besaß, als jener Zauberer aus dem Pontus. Aristoteles erkannte die Gefahr, die seinem Könige bereitet war; er enthüllte ihm Alles und veranlaßte ihn hie- allen Reiz der Weiber unempfindlich gewesen. Beim Anblick der schönen Königin flammte zum ersten Mal die Leidenschaft mächtig in ihm empor; seine Krone und sein Reich dünkten ihn nichts dagegen, wenn er ihre Liebe gewinnen könnte. Aber auch die Königin war von gleicher Leidenschaft gegen ihn entzündet worden, denn viel herrlicher strahlte das Auge Alexander's, als der Blick des alternden Königs von Thracien. Bald hatten sich Beide mit einander verständigt. Alexander wußte die günstigen Stunden auszuspähen, um der schönen Königin durch die Gallerie des Säulenganges ungesehen seinen Besuch machen und in ihren Armen finden zu können, weß sein Herz begehrte. Doch waren Lauscher zur Hand, welche dem Könige von Thracien das Liebesspiel bald verriethen. Da erfüllte ihn die Wuth der Eifersucht, und er beschloß, sich an Alexander auf furchtbare Weise zu rächen. Unter den Männern seines Gefolges befand sich ein Zauberer aus dem Pontus; dieser berechnete mit geheimer Wissenschaft die Stunde, zu welcher Alexander der Königin seinen nächsten Besuch zu machen gedachte, und schleuderte dann seine Zaubersprüche auf die Gallerie, die einen Jeden, der zu derselben Stunde darüber hinging, augenblicklich in Stein verwandeln sollten. Bei Alexander aber war ein weiser Mann, Aristoteles geheißen, der noch viel tiefere Wissenschaft besaß, als jener Zauberer aus dem Pontus. Aristoteles erkannte die Gefahr, die seinem Könige bereitet war; er enthüllte ihm Alles und veranlaßte ihn hie- <TEI> <text> <body> <div n="3"> <p><pb facs="#f0039"/> allen Reiz der Weiber unempfindlich gewesen. Beim Anblick der schönen Königin flammte zum ersten Mal die Leidenschaft mächtig in ihm empor; seine Krone und sein Reich dünkten ihn nichts dagegen, wenn er ihre Liebe gewinnen könnte. Aber auch die Königin war von gleicher Leidenschaft gegen ihn entzündet worden, denn viel herrlicher strahlte das Auge Alexander's, als der Blick des alternden Königs von Thracien. Bald hatten sich Beide mit einander verständigt. Alexander wußte die günstigen Stunden auszuspähen, um der schönen Königin durch die Gallerie des Säulenganges ungesehen seinen Besuch machen und in ihren Armen finden zu können, weß sein Herz begehrte. Doch waren Lauscher zur Hand, welche dem Könige von Thracien das Liebesspiel bald verriethen. Da erfüllte ihn die Wuth der Eifersucht, und er beschloß, sich an Alexander auf furchtbare Weise zu rächen. Unter den Männern seines Gefolges befand sich ein Zauberer aus dem Pontus; dieser berechnete mit geheimer Wissenschaft die Stunde, zu welcher Alexander der Königin seinen nächsten Besuch zu machen gedachte, und schleuderte dann seine Zaubersprüche auf die Gallerie, die einen Jeden, der zu derselben Stunde darüber hinging, augenblicklich in Stein verwandeln sollten. Bei Alexander aber war ein weiser Mann, Aristoteles geheißen, der noch viel tiefere Wissenschaft besaß, als jener Zauberer aus dem Pontus. Aristoteles erkannte die Gefahr, die seinem Könige bereitet war; er enthüllte ihm Alles und veranlaßte ihn hie-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0039]
allen Reiz der Weiber unempfindlich gewesen. Beim Anblick der schönen Königin flammte zum ersten Mal die Leidenschaft mächtig in ihm empor; seine Krone und sein Reich dünkten ihn nichts dagegen, wenn er ihre Liebe gewinnen könnte. Aber auch die Königin war von gleicher Leidenschaft gegen ihn entzündet worden, denn viel herrlicher strahlte das Auge Alexander's, als der Blick des alternden Königs von Thracien. Bald hatten sich Beide mit einander verständigt. Alexander wußte die günstigen Stunden auszuspähen, um der schönen Königin durch die Gallerie des Säulenganges ungesehen seinen Besuch machen und in ihren Armen finden zu können, weß sein Herz begehrte. Doch waren Lauscher zur Hand, welche dem Könige von Thracien das Liebesspiel bald verriethen. Da erfüllte ihn die Wuth der Eifersucht, und er beschloß, sich an Alexander auf furchtbare Weise zu rächen. Unter den Männern seines Gefolges befand sich ein Zauberer aus dem Pontus; dieser berechnete mit geheimer Wissenschaft die Stunde, zu welcher Alexander der Königin seinen nächsten Besuch zu machen gedachte, und schleuderte dann seine Zaubersprüche auf die Gallerie, die einen Jeden, der zu derselben Stunde darüber hinging, augenblicklich in Stein verwandeln sollten. Bei Alexander aber war ein weiser Mann, Aristoteles geheißen, der noch viel tiefere Wissenschaft besaß, als jener Zauberer aus dem Pontus. Aristoteles erkannte die Gefahr, die seinem Könige bereitet war; er enthüllte ihm Alles und veranlaßte ihn hie-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/kugler_incantada_1910 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/kugler_incantada_1910/39 |
Zitationshilfe: | Kugler, Franz: Die Incantada. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 81–146. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kugler_incantada_1910/39>, abgerufen am 16.02.2025. |