Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kugler, Franz: Die Incantada. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 81–146. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

wem sprichst du? fragte Stuart. -- Von wem ich spreche? kann ich denn von einer Andern sprechen, als der Königin? Dort -- blick hin -- die Zweite mit dem leicht niederwallenden Gewände und dem breiten Stirnbande, -- sie, deren Locken auf die zarten Schultern herabfallen und deren Schleier sich, vom Winde sanft gehoben, wie der Bogen der Gnade um die süße Gestalt breitet. O, sie war eine Königin, die Völker und Herzen beherrschte, und -- zu herrschen blieb sie noch immer berufen!

Seine Stimme, zu Anfang leidenschaftlich gehoben, verlor sich in leiser Klage. Stuart erkannte jetzt die eigentliche Krankheit seines armen Freundes und den verderblichen Wahn, von welchem das Gemüth desselben umfangen war. Allerdings aber war es ein Weib von eigenthümlich edler und anmuthsvoller Bildung, dessen Darstellung ihm Dimitri bezeichnet hatte. Es mochte das Bild einer Helena sein.

Du meinst, begann Stuart nach einer Pause, sie sei ein lebendes Weib gewesen und durch irgend einen Zauber in Stein verwandelt worden? -- Komm, erwiderte der Grieche, komm und setze dich her zu mir! Ich will dir Alles genau und getreulich berichten. Viele, viele Jahre sind es her, lange vorher, ehe noch die Türken in das Land kamen, da herrschte über Griechenland ein mächtiger König, Alexander geheißen. Alexander war jung und herrlich, und es trieb ihn, die Herrschaft seines Schwertes über die Völker des Ostens

wem sprichst du? fragte Stuart. — Von wem ich spreche? kann ich denn von einer Andern sprechen, als der Königin? Dort — blick hin — die Zweite mit dem leicht niederwallenden Gewände und dem breiten Stirnbande, — sie, deren Locken auf die zarten Schultern herabfallen und deren Schleier sich, vom Winde sanft gehoben, wie der Bogen der Gnade um die süße Gestalt breitet. O, sie war eine Königin, die Völker und Herzen beherrschte, und — zu herrschen blieb sie noch immer berufen!

Seine Stimme, zu Anfang leidenschaftlich gehoben, verlor sich in leiser Klage. Stuart erkannte jetzt die eigentliche Krankheit seines armen Freundes und den verderblichen Wahn, von welchem das Gemüth desselben umfangen war. Allerdings aber war es ein Weib von eigenthümlich edler und anmuthsvoller Bildung, dessen Darstellung ihm Dimitri bezeichnet hatte. Es mochte das Bild einer Helena sein.

Du meinst, begann Stuart nach einer Pause, sie sei ein lebendes Weib gewesen und durch irgend einen Zauber in Stein verwandelt worden? — Komm, erwiderte der Grieche, komm und setze dich her zu mir! Ich will dir Alles genau und getreulich berichten. Viele, viele Jahre sind es her, lange vorher, ehe noch die Türken in das Land kamen, da herrschte über Griechenland ein mächtiger König, Alexander geheißen. Alexander war jung und herrlich, und es trieb ihn, die Herrschaft seines Schwertes über die Völker des Ostens

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="3">
        <p><pb facs="#f0037"/>
wem sprichst du? fragte                Stuart. &#x2014; Von wem ich spreche? kann ich denn von einer Andern sprechen, als der                Königin? Dort &#x2014; blick hin &#x2014; die Zweite mit dem leicht niederwallenden Gewände und dem                breiten Stirnbande, &#x2014; sie, deren Locken auf die zarten Schultern herabfallen und                deren Schleier sich, vom Winde sanft gehoben, wie der Bogen der Gnade um die süße                Gestalt breitet. O, sie war eine Königin, die Völker und Herzen beherrschte, und &#x2014; zu                herrschen blieb sie noch immer berufen!</p><lb/>
        <p>Seine Stimme, zu Anfang leidenschaftlich gehoben, verlor sich in leiser Klage. Stuart                erkannte jetzt die eigentliche Krankheit seines armen Freundes und den verderblichen                Wahn, von welchem das Gemüth desselben umfangen war. Allerdings aber war es ein Weib                von eigenthümlich edler und anmuthsvoller Bildung, dessen Darstellung ihm Dimitri                bezeichnet hatte. Es mochte das Bild einer Helena sein.</p><lb/>
        <p>Du meinst, begann Stuart nach einer Pause, sie sei ein lebendes Weib gewesen und                durch irgend einen Zauber in Stein verwandelt worden? &#x2014; Komm, erwiderte der Grieche,                komm und setze dich her zu mir! Ich will dir Alles genau und getreulich berichten.                Viele, viele Jahre sind es her, lange vorher, ehe noch die Türken in das Land kamen,                da herrschte über Griechenland ein mächtiger König, Alexander geheißen. Alexander war                jung und herrlich, und es trieb ihn, die Herrschaft seines Schwertes über die Völker                des Ostens<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0037] wem sprichst du? fragte Stuart. — Von wem ich spreche? kann ich denn von einer Andern sprechen, als der Königin? Dort — blick hin — die Zweite mit dem leicht niederwallenden Gewände und dem breiten Stirnbande, — sie, deren Locken auf die zarten Schultern herabfallen und deren Schleier sich, vom Winde sanft gehoben, wie der Bogen der Gnade um die süße Gestalt breitet. O, sie war eine Königin, die Völker und Herzen beherrschte, und — zu herrschen blieb sie noch immer berufen! Seine Stimme, zu Anfang leidenschaftlich gehoben, verlor sich in leiser Klage. Stuart erkannte jetzt die eigentliche Krankheit seines armen Freundes und den verderblichen Wahn, von welchem das Gemüth desselben umfangen war. Allerdings aber war es ein Weib von eigenthümlich edler und anmuthsvoller Bildung, dessen Darstellung ihm Dimitri bezeichnet hatte. Es mochte das Bild einer Helena sein. Du meinst, begann Stuart nach einer Pause, sie sei ein lebendes Weib gewesen und durch irgend einen Zauber in Stein verwandelt worden? — Komm, erwiderte der Grieche, komm und setze dich her zu mir! Ich will dir Alles genau und getreulich berichten. Viele, viele Jahre sind es her, lange vorher, ehe noch die Türken in das Land kamen, da herrschte über Griechenland ein mächtiger König, Alexander geheißen. Alexander war jung und herrlich, und es trieb ihn, die Herrschaft seines Schwertes über die Völker des Ostens

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T14:01:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T14:01:39Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kugler_incantada_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kugler_incantada_1910/37
Zitationshilfe: Kugler, Franz: Die Incantada. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 81–146. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kugler_incantada_1910/37>, abgerufen am 25.11.2024.