Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kürnberger, Ferdinand: Der Drache. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 11. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [263]–310. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite
II.

Nach sechs Wochen kam der erste Brief. Der Doctor hatte sich geirrt. Kein Gensd'arm war nach Breitenau gekommen, den Raithmeyer zu holen, noch verlautete von einem begangenen Verbrechen das Geringste in jener ganzen Gegend. Dafür aber gab Rudolf eine Nachricht, die kaum erfreulicher klang. Sein Meister, schrieb er, sei allgemein im Verruf: er habe den Drachen. Der Doctor traute seinen Sinnen nicht bei dieser barbarischen Neuigkeit. Er hat den Drachen! Während so eben die Eisenbahn nach Pirna eröffnet worden war, Festreden, Fortschritts-Jubel, Sieges-Toaste, Verherrlichung der Neuzeit noch alle Ohren erfüllte -- hatte Einer spannenweit hinter dem Pirnaer Bahnhof den Drachen! Daß er in räucheriger Dorfschenke am dämmernden Kamin dem sagenhaften Drachen begegnet war, fand er ganz in Ordnung. Das glimmende Pfeifchen einer müßigen Abendstunde mit etwas Phantasiespuk zu würzen, mochte die alte Caricatur des Aberglaubens immerhin heraufbeschworen werden. Und berühmte sich auch der Eine oder der Andere noch einer persönlichen Bekanntschaft mit dem verjährten Gespenste, so legte er's mindestens in seine Jugendzeit zurück, in die fast eben so sagenhafte Franzosenzeit. Ein halbwegs vernünftiger Erzähler gab ja selbst zu, daß es für die Gegenwart im Aussterben begriffen sei. Es wagte sich nicht ans Licht hervor der verbesserten Schulbildung, oder es verschwand, wie mit theilweiser Richtigkeit erklärt worden war, vor dem Namen: Amerika; d. h. der Mensch fand heut zu Tage auf der Erde, was er sonst unter der Erde mit finsterem Irrwahn gesucht hat. Und dennoch! Da ist es wieder, das alte verderbliche Phantom, wie es in grauesten Tagen leibte und lebte! Es war kein harmloser Abenddiscurs,

II.

Nach sechs Wochen kam der erste Brief. Der Doctor hatte sich geirrt. Kein Gensd'arm war nach Breitenau gekommen, den Raithmeyer zu holen, noch verlautete von einem begangenen Verbrechen das Geringste in jener ganzen Gegend. Dafür aber gab Rudolf eine Nachricht, die kaum erfreulicher klang. Sein Meister, schrieb er, sei allgemein im Verruf: er habe den Drachen. Der Doctor traute seinen Sinnen nicht bei dieser barbarischen Neuigkeit. Er hat den Drachen! Während so eben die Eisenbahn nach Pirna eröffnet worden war, Festreden, Fortschritts-Jubel, Sieges-Toaste, Verherrlichung der Neuzeit noch alle Ohren erfüllte — hatte Einer spannenweit hinter dem Pirnaer Bahnhof den Drachen! Daß er in räucheriger Dorfschenke am dämmernden Kamin dem sagenhaften Drachen begegnet war, fand er ganz in Ordnung. Das glimmende Pfeifchen einer müßigen Abendstunde mit etwas Phantasiespuk zu würzen, mochte die alte Caricatur des Aberglaubens immerhin heraufbeschworen werden. Und berühmte sich auch der Eine oder der Andere noch einer persönlichen Bekanntschaft mit dem verjährten Gespenste, so legte er's mindestens in seine Jugendzeit zurück, in die fast eben so sagenhafte Franzosenzeit. Ein halbwegs vernünftiger Erzähler gab ja selbst zu, daß es für die Gegenwart im Aussterben begriffen sei. Es wagte sich nicht ans Licht hervor der verbesserten Schulbildung, oder es verschwand, wie mit theilweiser Richtigkeit erklärt worden war, vor dem Namen: Amerika; d. h. der Mensch fand heut zu Tage auf der Erde, was er sonst unter der Erde mit finsterem Irrwahn gesucht hat. Und dennoch! Da ist es wieder, das alte verderbliche Phantom, wie es in grauesten Tagen leibte und lebte! Es war kein harmloser Abenddiscurs,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0023"/>
      <div type="chapter" n="2">
        <head>II.</head>
        <p>Nach sechs Wochen kam der erste Brief. Der Doctor hatte sich geirrt. Kein Gensd'arm war nach      Breitenau gekommen, den Raithmeyer zu holen, noch verlautete von einem begangenen Verbrechen      das Geringste in jener ganzen Gegend. Dafür aber gab Rudolf eine Nachricht, die kaum      erfreulicher klang. Sein Meister, schrieb er, sei allgemein im Verruf: er habe den Drachen. Der      Doctor traute seinen Sinnen nicht bei dieser barbarischen Neuigkeit. Er hat den Drachen!      Während so eben die Eisenbahn nach Pirna eröffnet worden war, Festreden, Fortschritts-Jubel,      Sieges-Toaste, Verherrlichung der Neuzeit noch alle Ohren erfüllte &#x2014; hatte Einer spannenweit      hinter dem Pirnaer Bahnhof den Drachen! Daß er in räucheriger Dorfschenke am dämmernden Kamin      dem sagenhaften Drachen begegnet war, fand er ganz in Ordnung. Das glimmende Pfeifchen einer      müßigen Abendstunde mit etwas Phantasiespuk zu würzen, mochte die alte Caricatur des      Aberglaubens immerhin heraufbeschworen werden. Und berühmte sich auch der Eine oder der Andere      noch einer persönlichen Bekanntschaft mit dem verjährten Gespenste, so legte er's mindestens in      seine Jugendzeit zurück, in die fast eben so sagenhafte Franzosenzeit. Ein halbwegs      vernünftiger Erzähler gab ja selbst zu, daß es für die Gegenwart im Aussterben begriffen sei.      Es wagte sich nicht ans Licht hervor der verbesserten Schulbildung, oder es verschwand, wie mit      theilweiser Richtigkeit erklärt worden war, vor dem Namen: Amerika; d. h. der Mensch fand heut      zu Tage auf der Erde, was er sonst unter der Erde mit finsterem Irrwahn gesucht hat. Und      dennoch! Da ist es wieder, das alte verderbliche Phantom, wie es in grauesten Tagen leibte und      lebte! Es war kein harmloser Abenddiscurs,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0023] II. Nach sechs Wochen kam der erste Brief. Der Doctor hatte sich geirrt. Kein Gensd'arm war nach Breitenau gekommen, den Raithmeyer zu holen, noch verlautete von einem begangenen Verbrechen das Geringste in jener ganzen Gegend. Dafür aber gab Rudolf eine Nachricht, die kaum erfreulicher klang. Sein Meister, schrieb er, sei allgemein im Verruf: er habe den Drachen. Der Doctor traute seinen Sinnen nicht bei dieser barbarischen Neuigkeit. Er hat den Drachen! Während so eben die Eisenbahn nach Pirna eröffnet worden war, Festreden, Fortschritts-Jubel, Sieges-Toaste, Verherrlichung der Neuzeit noch alle Ohren erfüllte — hatte Einer spannenweit hinter dem Pirnaer Bahnhof den Drachen! Daß er in räucheriger Dorfschenke am dämmernden Kamin dem sagenhaften Drachen begegnet war, fand er ganz in Ordnung. Das glimmende Pfeifchen einer müßigen Abendstunde mit etwas Phantasiespuk zu würzen, mochte die alte Caricatur des Aberglaubens immerhin heraufbeschworen werden. Und berühmte sich auch der Eine oder der Andere noch einer persönlichen Bekanntschaft mit dem verjährten Gespenste, so legte er's mindestens in seine Jugendzeit zurück, in die fast eben so sagenhafte Franzosenzeit. Ein halbwegs vernünftiger Erzähler gab ja selbst zu, daß es für die Gegenwart im Aussterben begriffen sei. Es wagte sich nicht ans Licht hervor der verbesserten Schulbildung, oder es verschwand, wie mit theilweiser Richtigkeit erklärt worden war, vor dem Namen: Amerika; d. h. der Mensch fand heut zu Tage auf der Erde, was er sonst unter der Erde mit finsterem Irrwahn gesucht hat. Und dennoch! Da ist es wieder, das alte verderbliche Phantom, wie es in grauesten Tagen leibte und lebte! Es war kein harmloser Abenddiscurs,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T13:57:16Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T13:57:16Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_drache_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_drache_1910/23
Zitationshilfe: Kürnberger, Ferdinand: Der Drache. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 11. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [263]–310. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_drache_1910/23>, abgerufen am 22.11.2024.