des guten Tones, was von Natur doch umgekehrt war. Kurz, Moor¬ feld sollte bald empfinden, was es heißt, ohne Nationalehre, als bloßes Individuum in die Welt zu gehen. Dieses Gefühl, welches keinem deutschen Auswanderer erspart bleibt, und auf welches sich doch der Seltenste gefaßt macht, legte einen Unmuth in ihn, durch den die Licht¬ spiele des Humors, welchen er seinen Beleidiger fühlen ließ, nicht wie Sonnenstrahlen durchbrachen, sondern wie ein werdender Blitz, der seine Jugendspiele hält.
Nicht gastlicher als Herr Staunton verschönerte ihm die Hausfrau seinen Aufenthalt. Mistreß Livia Staunton trug zur Belebung ihres Hauses das ausgesucht Wenigste bei, was ein lebendiges Wesen zu leisten vermag. Moorfeld erblickte diese Dame kaum anders, als im Schaukelstuhl mit der Newyorker-Tribüne vor sich, oder an ihrem Bureau, die Bibeln, Kinder¬ strümpfe und Seelen irgend eines geistlichen Hilfsvereins verbuchend. Mrs. Livia Staunton war nämlich -- um sie im vollen Rund vor¬ zuführen -- actives Mitglied folgender Vereine: zur Verbreitung der Bibeln, zur Vertheilung geistlicher Flugschriften, zur Bekehrung, Ci¬ vilisirung und Erziehung der Wilden, zur Verheirathung der Prediger, zur Versorgung ihrer Witwen und Waisen, zur Verkündigung, Aus¬ breitung, Reinigung und Bewahrung des Glaubens, für den Kirchen¬ bau, zur Dotirung der Gemeinden, zur Aufrechthaltung der Seminarien, zum Katechisiren und Bekehren der Matrosen, Neger und Freuden¬ mädchen, zur Beobachtung des Sonntags, zur Verhinderung des Schmähens und Fluchens, zur Errichtung von Sonntagsschulen, zur Verhütung der Trunkenheit des weiblichen Geschlechtes. Diese Ti¬ tulatur war auf der Thür ihres Drawing-rooms unter Glas- und Goldrahmen für jeden, der die Geduld dazu hatte, zu lesen. Ein solches Etablissement von christlicher Werkthätigkeit gab freilich zu thun. Ihre Erholung davon suchte und fand aber die würdige Frau nicht in ihrer Häuslichkeit, sondern außerhalb, wenn sie mit Miß Sarah Sonntags im Kirchenstuhle träumte und Sonnabends auf den Shop¬ ping ging. Dies sind nämlich die zwei Marktgänge, auf welchen das weibliche Herz in Amerika seinen Bedarf an Galanterie sich besorgt. Daß den Newyorkerinnen der Kirchenstuhl das ist, was den Pariserin¬ nen die Loge in der großen Oper, ein Empfangsalon für den Anbeter, ein Rendezvous der weltlichsten Eitelkeit, dies zu erfahren hatte Moor¬
des guten Tones, was von Natur doch umgekehrt war. Kurz, Moor¬ feld ſollte bald empfinden, was es heißt, ohne Nationalehre, als bloßes Individuum in die Welt zu gehen. Dieſes Gefühl, welches keinem deutſchen Auswanderer erſpart bleibt, und auf welches ſich doch der Seltenſte gefaßt macht, legte einen Unmuth in ihn, durch den die Licht¬ ſpiele des Humors, welchen er ſeinen Beleidiger fühlen ließ, nicht wie Sonnenſtrahlen durchbrachen, ſondern wie ein werdender Blitz, der ſeine Jugendſpiele hält.
Nicht gaſtlicher als Herr Staunton verſchönerte ihm die Hausfrau ſeinen Aufenthalt. Miſtreß Livia Staunton trug zur Belebung ihres Hauſes das ausgeſucht Wenigſte bei, was ein lebendiges Weſen zu leiſten vermag. Moorfeld erblickte dieſe Dame kaum anders, als im Schaukelſtuhl mit der Newyorker-Tribüne vor ſich, oder an ihrem Bureau, die Bibeln, Kinder¬ ſtrümpfe und Seelen irgend eines geiſtlichen Hilfsvereins verbuchend. Mrs. Livia Staunton war nämlich — um ſie im vollen Rund vor¬ zuführen — actives Mitglied folgender Vereine: zur Verbreitung der Bibeln, zur Vertheilung geiſtlicher Flugſchriften, zur Bekehrung, Ci¬ viliſirung und Erziehung der Wilden, zur Verheirathung der Prediger, zur Verſorgung ihrer Witwen und Waiſen, zur Verkündigung, Aus¬ breitung, Reinigung und Bewahrung des Glaubens, für den Kirchen¬ bau, zur Dotirung der Gemeinden, zur Aufrechthaltung der Seminarien, zum Katechiſiren und Bekehren der Matroſen, Neger und Freuden¬ mädchen, zur Beobachtung des Sonntags, zur Verhinderung des Schmähens und Fluchens, zur Errichtung von Sonntagsſchulen, zur Verhütung der Trunkenheit des weiblichen Geſchlechtes. Dieſe Ti¬ tulatur war auf der Thür ihres Drawing-rooms unter Glas- und Goldrahmen für jeden, der die Geduld dazu hatte, zu leſen. Ein ſolches Etabliſſement von chriſtlicher Werkthätigkeit gab freilich zu thun. Ihre Erholung davon ſuchte und fand aber die würdige Frau nicht in ihrer Häuslichkeit, ſondern außerhalb, wenn ſie mit Miß Sarah Sonntags im Kirchenſtuhle träumte und Sonnabends auf den Shop¬ ping ging. Dies ſind nämlich die zwei Marktgänge, auf welchen das weibliche Herz in Amerika ſeinen Bedarf an Galanterie ſich beſorgt. Daß den Newyorkerinnen der Kirchenſtuhl das iſt, was den Pariſerin¬ nen die Loge in der großen Oper, ein Empfangſalon für den Anbeter, ein Rendezvous der weltlichſten Eitelkeit, dies zu erfahren hatte Moor¬
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des guten Tones, was von Natur doch umgekehrt war. Kurz, Moor¬
feld ſollte bald empfinden, was es heißt, ohne Nationalehre, als bloßes
Individuum in die Welt zu gehen. Dieſes Gefühl, welches keinem
deutſchen Auswanderer erſpart bleibt, und auf welches ſich doch der
Seltenſte gefaßt macht, legte einen Unmuth in ihn, durch den die Licht¬
ſpiele des Humors, welchen er ſeinen Beleidiger fühlen ließ, nicht wie
Sonnenſtrahlen durchbrachen, ſondern wie ein werdender Blitz, der
ſeine Jugendſpiele hält.
Nicht gaſtlicher als Herr Staunton verſchönerte ihm die Hausfrau
ſeinen Aufenthalt. Miſtreß Livia Staunton trug zur Belebung ihres Hauſes
das ausgeſucht Wenigſte bei, was ein lebendiges Weſen zu leiſten vermag.
Moorfeld erblickte dieſe Dame kaum anders, als im Schaukelſtuhl mit der
Newyorker-Tribüne vor ſich, oder an ihrem Bureau, die Bibeln, Kinder¬
ſtrümpfe und Seelen irgend eines geiſtlichen Hilfsvereins verbuchend.
Mrs. Livia Staunton war nämlich — um ſie im vollen Rund vor¬
zuführen — actives Mitglied folgender Vereine: zur Verbreitung der
Bibeln, zur Vertheilung geiſtlicher Flugſchriften, zur Bekehrung, Ci¬
viliſirung und Erziehung der Wilden, zur Verheirathung der Prediger,
zur Verſorgung ihrer Witwen und Waiſen, zur Verkündigung, Aus¬
breitung, Reinigung und Bewahrung des Glaubens, für den Kirchen¬
bau, zur Dotirung der Gemeinden, zur Aufrechthaltung der Seminarien,
zum Katechiſiren und Bekehren der Matroſen, Neger und Freuden¬
mädchen, zur Beobachtung des Sonntags, zur Verhinderung des
Schmähens und Fluchens, zur Errichtung von Sonntagsſchulen, zur
Verhütung der Trunkenheit des weiblichen Geſchlechtes. Dieſe Ti¬
tulatur war auf der Thür ihres Drawing-rooms unter Glas- und
Goldrahmen für jeden, der die Geduld dazu hatte, zu leſen. Ein
ſolches Etabliſſement von chriſtlicher Werkthätigkeit gab freilich zu thun.
Ihre Erholung davon ſuchte und fand aber die würdige Frau nicht
in ihrer Häuslichkeit, ſondern außerhalb, wenn ſie mit Miß Sarah
Sonntags im Kirchenſtuhle träumte und Sonnabends auf den Shop¬
ping ging. Dies ſind nämlich die zwei Marktgänge, auf welchen das
weibliche Herz in Amerika ſeinen Bedarf an Galanterie ſich beſorgt.
Daß den Newyorkerinnen der Kirchenſtuhl das iſt, was den Pariſerin¬
nen die Loge in der großen Oper, ein Empfangſalon für den Anbeter,
ein Rendezvous der weltlichſten Eitelkeit, dies zu erfahren hatte Moor¬
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Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/88>, abgerufen am 24.11.2024.
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