mit größter Gewissenhaftigkeit darüber zu urtheilen, oder besser eines vorzeitigen Urtheils sich zu enthalten. So fremdartig und unerquicklich zwischen der nationalen Arroganz des Hausherrn, der steifen Würde der Hausfrau und der prätentiösen Unnahbarkeit der Tochter ihn die ersten Stunden seines Aufenthaltes anmutheten, so erlaubte ihm doch die Ehrfurcht vor allem Menschlichen noch keine Voreingenommenheit gegen diese Personen. Selbst die Lebensfrage "unsers Daniel" mochte er, nach der Auslegung, deren sie zur Noth fähig war, auf sich be¬ ruhen lassen. Deßungeachtet glaubte er von der amerikanischen Familie so wenig wie von der amerikanischen Stadt sich versprechen zu dürfen. Auch hier ahnte er ein dem europäischen entgegengesetztes Verhältniß. In Europa betrachtet der Bürger seine Familie als den angebornen und natürlichen Beirath seiner Angelegenheiten: Europa's Geschichte wird in der Familie gemacht. Anders in Amerika. Hier wehte inner¬ halb der vier häuslichen Wände ein so kühler Geist, daß augenblicklich errathen wurde, die eigentliche Lebenswärme der bürgerlichen Existenz entbinde sich hier auf anderem als häuslichem Schauplatze. Der Mann gehörte, wie in den alten Staaten, der Oeffentlichkeit. Dort entfaltete er die Summe seiner Eigenthümlichkeit, dort zeichnete er, dort indivi¬ dualisirte er sich. Zu Hause war er nur ein Gattungscharakter -- ein guter Ehemann. Was er den Mächten des Lebens abgelistet und abgetrotzt, das legte er wie eine ritterliche Beute seinen Ladies zu Füßen, der Gattin und Tochter. Ihnen kehrte er die Bildseite seines irdischen Webens zu; das Sausen, Schlagen, Rupfen und Treten der Webearbeit blieb ihnen abgewendet. Von dem gemüthlichen deutschen Stabreim: Wohl und Weh, Freud und Leid -- theilte er nur Wohl und Freud mit ihnen, die andere Hälfte des Reimes verschluckte er: er hob aber Alles auf, indem er den Gegensatz aufhob. Seine weib¬ liche Familie vergötterte er, seine männliche vergaß er. Den Sohn spülte ihm der Strom der amerikanischen Freiheit schon als Knabe hinweg, und brachte ihn nie wieder, oder vielleicht als Associe zurück, mit dem man die Dividende -- nicht der väterlichen Liebe -- sondern des väterlichen Geschäftes abrechnet.
Diese Betrachtungen waren es, welche Moorfeld, nicht so wohl machte, als vielmehr nicht abhalten konnte von sich. Er streckte wahrlich die Hand nicht freiwillig nach einer Erkenntnißfrucht von so herbem
mit größter Gewiſſenhaftigkeit darüber zu urtheilen, oder beſſer eines vorzeitigen Urtheils ſich zu enthalten. So fremdartig und unerquicklich zwiſchen der nationalen Arroganz des Hausherrn, der ſteifen Würde der Hausfrau und der prätentiöſen Unnahbarkeit der Tochter ihn die erſten Stunden ſeines Aufenthaltes anmutheten, ſo erlaubte ihm doch die Ehrfurcht vor allem Menſchlichen noch keine Voreingenommenheit gegen dieſe Perſonen. Selbſt die Lebensfrage „unſers Daniel“ mochte er, nach der Auslegung, deren ſie zur Noth fähig war, auf ſich be¬ ruhen laſſen. Deßungeachtet glaubte er von der amerikaniſchen Familie ſo wenig wie von der amerikaniſchen Stadt ſich verſprechen zu dürfen. Auch hier ahnte er ein dem europäiſchen entgegengeſetztes Verhältniß. In Europa betrachtet der Bürger ſeine Familie als den angebornen und natürlichen Beirath ſeiner Angelegenheiten: Europa's Geſchichte wird in der Familie gemacht. Anders in Amerika. Hier wehte inner¬ halb der vier häuslichen Wände ein ſo kühler Geiſt, daß augenblicklich errathen wurde, die eigentliche Lebenswärme der bürgerlichen Exiſtenz entbinde ſich hier auf anderem als häuslichem Schauplatze. Der Mann gehörte, wie in den alten Staaten, der Oeffentlichkeit. Dort entfaltete er die Summe ſeiner Eigenthümlichkeit, dort zeichnete er, dort indivi¬ dualiſirte er ſich. Zu Hauſe war er nur ein Gattungscharakter — ein guter Ehemann. Was er den Mächten des Lebens abgeliſtet und abgetrotzt, das legte er wie eine ritterliche Beute ſeinen Ladies zu Füßen, der Gattin und Tochter. Ihnen kehrte er die Bildſeite ſeines irdiſchen Webens zu; das Sauſen, Schlagen, Rupfen und Treten der Webearbeit blieb ihnen abgewendet. Von dem gemüthlichen deutſchen Stabreim: Wohl und Weh, Freud und Leid — theilte er nur Wohl und Freud mit ihnen, die andere Hälfte des Reimes verſchluckte er: er hob aber Alles auf, indem er den Gegenſatz aufhob. Seine weib¬ liche Familie vergötterte er, ſeine männliche vergaß er. Den Sohn ſpülte ihm der Strom der amerikaniſchen Freiheit ſchon als Knabe hinweg, und brachte ihn nie wieder, oder vielleicht als Aſſocié zurück, mit dem man die Dividende — nicht der väterlichen Liebe — ſondern des väterlichen Geſchäftes abrechnet.
Dieſe Betrachtungen waren es, welche Moorfeld, nicht ſo wohl machte, als vielmehr nicht abhalten konnte von ſich. Er ſtreckte wahrlich die Hand nicht freiwillig nach einer Erkenntnißfrucht von ſo herbem
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mit größter Gewiſſenhaftigkeit darüber zu urtheilen, oder beſſer eines
vorzeitigen Urtheils ſich zu enthalten. So fremdartig und unerquicklich
zwiſchen der nationalen Arroganz des Hausherrn, der ſteifen Würde
der Hausfrau und der prätentiöſen Unnahbarkeit der Tochter ihn die
erſten Stunden ſeines Aufenthaltes anmutheten, ſo erlaubte ihm doch
die Ehrfurcht vor allem Menſchlichen noch keine Voreingenommenheit
gegen dieſe Perſonen. Selbſt die Lebensfrage „unſers Daniel“ mochte
er, nach der Auslegung, deren ſie zur Noth fähig war, auf ſich be¬
ruhen laſſen. Deßungeachtet glaubte er von der amerikaniſchen Familie
ſo wenig wie von der amerikaniſchen Stadt ſich verſprechen zu dürfen.
Auch hier ahnte er ein dem europäiſchen entgegengeſetztes Verhältniß.
In Europa betrachtet der Bürger ſeine Familie als den angebornen
und natürlichen Beirath ſeiner Angelegenheiten: Europa's Geſchichte
wird in der Familie gemacht. Anders in Amerika. Hier wehte inner¬
halb der vier häuslichen Wände ein ſo kühler Geiſt, daß augenblicklich
errathen wurde, die eigentliche Lebenswärme der bürgerlichen Exiſtenz
entbinde ſich hier auf anderem als häuslichem Schauplatze. Der Mann
gehörte, wie in den alten Staaten, der Oeffentlichkeit. Dort entfaltete
er die Summe ſeiner Eigenthümlichkeit, dort zeichnete er, dort indivi¬
dualiſirte er ſich. Zu Hauſe war er nur ein Gattungscharakter —
ein guter Ehemann. Was er den Mächten des Lebens abgeliſtet und
abgetrotzt, das legte er wie eine ritterliche Beute ſeinen Ladies zu
Füßen, der Gattin und Tochter. Ihnen kehrte er die Bildſeite ſeines
irdiſchen Webens zu; das Sauſen, Schlagen, Rupfen und Treten der
Webearbeit blieb ihnen abgewendet. Von dem gemüthlichen deutſchen
Stabreim: Wohl und Weh, Freud und Leid — theilte er nur Wohl
und Freud mit ihnen, die andere Hälfte des Reimes verſchluckte er:
er hob aber Alles auf, indem er den Gegenſatz aufhob. Seine weib¬
liche Familie vergötterte er, ſeine männliche vergaß er. Den Sohn
ſpülte ihm der Strom der amerikaniſchen Freiheit ſchon als Knabe
hinweg, und brachte ihn nie wieder, oder vielleicht als Aſſocié zurück,
mit dem man die Dividende — nicht der väterlichen Liebe — ſondern
des väterlichen Geſchäftes abrechnet.
Dieſe Betrachtungen waren es, welche Moorfeld, nicht ſo wohl
machte, als vielmehr nicht abhalten konnte von ſich. Er ſtreckte wahrlich
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Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/65>, abgerufen am 24.11.2024.
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