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Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855.

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verheißende Bild dieser engelreinen Erde hinreißend vor dem inneren
Auge empor und alle Stimmen des qualbeladenen Herzens riefen laut:
Auf nach den Seen!

Wir vergessen nämlich nicht: Zwischen uns und unsrer Geschichte
liegt eine Generation. Wenn die Phrase von dem "Belecken der Cultur"
schon in den meisten Fällen eine übereilte ist, da vor den ungeheuren
Formen von Meer und Land die einzelne Umformungen durch Menschen¬
arbeit in der Regel doch infusorischer erscheinen, als der Schöpfungs-
König sich schmeichelt, so lag vor dreiundzwanzig Jahren die Region
der nordamerikanischen Süßwasserseen in der That noch in dem zau¬
berischen Kindheitsdämmer einer halbmythischen Geographie. Zwar
wehte die Rauchflagge des Steamers schon in jenen Urweltsregionen,
aber diese fruchtbare Gattung von Seeungeheuern hatte ihr Geschlecht
noch nicht zu der Ausbreitung von heute gebracht. Noch war die ein¬
same Welle dieser Gewässer des indianischen Ruders gewohnter, als der
wühlenden Dampfmaschine, noch stand der Eichwald in ungelichteten
Reihen um die heimatliche Seebucht, der heute in allen Schiffsgestalten
die Meere der Welt durchfurcht, noch hielt der Bär seinen ruhigen
Winterschlaf in Höhlen, wo heute Bijouterieläden strahlen, und im
gasflammenden Lesecabinet die Zeitungen von London und Paris auf¬
liegen.

Dahin nun richtete Moorfeld nach der Verblutung des ersten, wil¬
desten Schmerzes seine stillen Wege. Im Augenblicke des Abschieds
blieb ihm mit Doctor Althof noch ein harter Kampf zu bestehen. Der
vorsichtige Mann bestand darauf, Moorfeld sollte, wie er sich scho¬
nend ausdrückte, einen -- Diener mitnehmen. Der Arzt errieth aber
den Arzt und kalt-beleidigt gab Moorfeld die Antwort: Kann unbe¬
gleitet zur Hölle gehn! Auch seinen Abschied von Annetten suchte
Doctor Althof um jeden Preis hintanzuhalten. Ein Schlaganfall hatte
sich noch Tags zuvor wiederholt und das Kind einen entsetzlichen Schritt
weiter in seiner Krankheit geführt. Die Gesichtszüge waren von der
Lähmung bis zur Unkenntlichkeit entstellt, die Zunge kaum noch eines
thierähnlichen Stammeles fähig, die Irre des Geistes vergröberter, finstrer.
Es war ein peinlicher Augenblick, als Moorfeld den letzten Kuß auf
die "entgeisterte Stirne" zu drücken begehrte. Der Doctor, der Vater,
die Mutter selbst stellten sich mit Bitten und Thränen davor. Je ge¬

verheißende Bild dieſer engelreinen Erde hinreißend vor dem inneren
Auge empor und alle Stimmen des qualbeladenen Herzens riefen laut:
Auf nach den Seen!

Wir vergeſſen nämlich nicht: Zwiſchen uns und unſrer Geſchichte
liegt eine Generation. Wenn die Phraſe von dem „Belecken der Cultur“
ſchon in den meiſten Fällen eine übereilte iſt, da vor den ungeheuren
Formen von Meer und Land die einzelne Umformungen durch Menſchen¬
arbeit in der Regel doch infuſoriſcher erſcheinen, als der Schöpfungs-
König ſich ſchmeichelt, ſo lag vor dreiundzwanzig Jahren die Region
der nordamerikaniſchen Süßwaſſerſeen in der That noch in dem zau¬
beriſchen Kindheitsdämmer einer halbmythiſchen Geographie. Zwar
wehte die Rauchflagge des Steamers ſchon in jenen Urweltsregionen,
aber dieſe fruchtbare Gattung von Seeungeheuern hatte ihr Geſchlecht
noch nicht zu der Ausbreitung von heute gebracht. Noch war die ein¬
ſame Welle dieſer Gewäſſer des indianiſchen Ruders gewohnter, als der
wühlenden Dampfmaſchine, noch ſtand der Eichwald in ungelichteten
Reihen um die heimatliche Seebucht, der heute in allen Schiffsgeſtalten
die Meere der Welt durchfurcht, noch hielt der Bär ſeinen ruhigen
Winterſchlaf in Höhlen, wo heute Bijouterieläden ſtrahlen, und im
gasflammenden Leſecabinet die Zeitungen von London und Paris auf¬
liegen.

Dahin nun richtete Moorfeld nach der Verblutung des erſten, wil¬
deſten Schmerzes ſeine ſtillen Wege. Im Augenblicke des Abſchieds
blieb ihm mit Doctor Althof noch ein harter Kampf zu beſtehen. Der
vorſichtige Mann beſtand darauf, Moorfeld ſollte, wie er ſich ſcho¬
nend ausdrückte, einen — Diener mitnehmen. Der Arzt errieth aber
den Arzt und kalt-beleidigt gab Moorfeld die Antwort: Kann unbe¬
gleitet zur Hölle gehn! Auch ſeinen Abſchied von Annetten ſuchte
Doctor Althof um jeden Preis hintanzuhalten. Ein Schlaganfall hatte
ſich noch Tags zuvor wiederholt und das Kind einen entſetzlichen Schritt
weiter in ſeiner Krankheit geführt. Die Geſichtszüge waren von der
Lähmung bis zur Unkenntlichkeit entſtellt, die Zunge kaum noch eines
thierähnlichen Stammeles fähig, die Irre des Geiſtes vergröberter, finſtrer.
Es war ein peinlicher Augenblick, als Moorfeld den letzten Kuß auf
die „entgeiſterte Stirne“ zu drücken begehrte. Der Doctor, der Vater,
die Mutter ſelbſt ſtellten ſich mit Bitten und Thränen davor. Je ge¬

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[398/0416] verheißende Bild dieſer engelreinen Erde hinreißend vor dem inneren Auge empor und alle Stimmen des qualbeladenen Herzens riefen laut: Auf nach den Seen! Wir vergeſſen nämlich nicht: Zwiſchen uns und unſrer Geſchichte liegt eine Generation. Wenn die Phraſe von dem „Belecken der Cultur“ ſchon in den meiſten Fällen eine übereilte iſt, da vor den ungeheuren Formen von Meer und Land die einzelne Umformungen durch Menſchen¬ arbeit in der Regel doch infuſoriſcher erſcheinen, als der Schöpfungs- König ſich ſchmeichelt, ſo lag vor dreiundzwanzig Jahren die Region der nordamerikaniſchen Süßwaſſerſeen in der That noch in dem zau¬ beriſchen Kindheitsdämmer einer halbmythiſchen Geographie. Zwar wehte die Rauchflagge des Steamers ſchon in jenen Urweltsregionen, aber dieſe fruchtbare Gattung von Seeungeheuern hatte ihr Geſchlecht noch nicht zu der Ausbreitung von heute gebracht. Noch war die ein¬ ſame Welle dieſer Gewäſſer des indianiſchen Ruders gewohnter, als der wühlenden Dampfmaſchine, noch ſtand der Eichwald in ungelichteten Reihen um die heimatliche Seebucht, der heute in allen Schiffsgeſtalten die Meere der Welt durchfurcht, noch hielt der Bär ſeinen ruhigen Winterſchlaf in Höhlen, wo heute Bijouterieläden ſtrahlen, und im gasflammenden Leſecabinet die Zeitungen von London und Paris auf¬ liegen. Dahin nun richtete Moorfeld nach der Verblutung des erſten, wil¬ deſten Schmerzes ſeine ſtillen Wege. Im Augenblicke des Abſchieds blieb ihm mit Doctor Althof noch ein harter Kampf zu beſtehen. Der vorſichtige Mann beſtand darauf, Moorfeld ſollte, wie er ſich ſcho¬ nend ausdrückte, einen — Diener mitnehmen. Der Arzt errieth aber den Arzt und kalt-beleidigt gab Moorfeld die Antwort: Kann unbe¬ gleitet zur Hölle gehn! Auch ſeinen Abſchied von Annetten ſuchte Doctor Althof um jeden Preis hintanzuhalten. Ein Schlaganfall hatte ſich noch Tags zuvor wiederholt und das Kind einen entſetzlichen Schritt weiter in ſeiner Krankheit geführt. Die Geſichtszüge waren von der Lähmung bis zur Unkenntlichkeit entſtellt, die Zunge kaum noch eines thierähnlichen Stammeles fähig, die Irre des Geiſtes vergröberter, finſtrer. Es war ein peinlicher Augenblick, als Moorfeld den letzten Kuß auf die „entgeiſterte Stirne“ zu drücken begehrte. Der Doctor, der Vater, die Mutter ſelbſt ſtellten ſich mit Bitten und Thränen davor. Je ge¬

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Zitationshilfe: Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855, S. 398. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/416>, abgerufen am 24.11.2024.