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Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855.

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Frivolität Humbug nennen dürfen. Sie wird eine Religion des Unter¬
nehmungsgeistes, der Eroberung, eine Religion go ahead sein. Sie
wird das: liebe deinen Nächsten wie dich selbst, so lange nationalisiren,
bis ein help your selp! daraus wird. Kurz, sie wird national sein.
Dieses Moment darf keiner Religion fehlen, vielmehr ist es der innerste
Kern und das tiefste Bedürfniß einer jeden. Die Römer und Griechen
hatten kein Nationalgefühl mehr und die Germanen hatten's noch nicht,
als sie ihre heutige Religion annahmen. Hier stehen die Sachen anders.
Es ist eigentlich die größte Anomalie, daß das Volk nur die Stempel¬
acte und nicht auch die Religion des Mutterlandes abwarf. In seinen
Verhältnissen kann es gar nichts brauchen von Europa. Der Grund ist
einzig, daß man Religionen nicht so schnell macht, wie Constitutionen,
obwohl man auch diese mitunter zu schnell macht. Aber eben darum
steht der Islam Amerika's noch bevor.

Bis dahin, sagte der Doctor, müssen wir freilich methodistische
Tobsucht und puritanische Starrsucht für unser liebes altes Christen¬
thum gelten lassen. Unser einer steht sich am besten dabei. Man wird
ordentlich Doctor der Medicin und Theologie zugleich bei diesen christ¬
lichen Suchten.

So unterhielten wir uns, indem wir über dieses Stück amerika¬
nische Erde ritten. Unsere Zungen lechzten, unsere Pferde suchten ohne
alle Anleitung den kurzen Schatten am Wegsaum. Wir waren froh,
das Waldlager zu erreichen. Das Geschrei: Jesus komm herab! ertönte
noch immer. Fast zwei Stunden war ich abwesend gewesen.

Als wir unsere Pferde abgezäumt hatten und in die Wagenburg
eintraten, fand ich Vieles verändert. Die ganze Menschenwoge lag
nicht mehr breit über den vorhandenen Raum ausgegossen, sondern
zugespitzt wie zur Springflut; Alles culminirte in einem dichtge¬
drängten Kreis. Der Kreis war inwendig hohl; drinnen erscholl jetzt
die Stimme: Jesus komm herab! aber die umgebende Menge verhielt
sich schweigend. Hoby, der Straßenjunge, war zum Mittelpunkte der
Andacht geworden. -- Ich merke, er sitzt auf dem "Angststuhl" sagte
Doctor Althof -- bitte, Poll, reichen Sie mir das Besteck, wenn ich
etwa eine Ader schlagen müßte. Erschrocken machte ich Fragen, aber
Althof antwortete: Wir werden sehen, mein Herr. Er und der studen¬

Frivolität Humbug nennen dürfen. Sie wird eine Religion des Unter¬
nehmungsgeiſtes, der Eroberung, eine Religion go ahead ſein. Sie
wird das: liebe deinen Nächſten wie dich ſelbſt, ſo lange nationaliſiren,
bis ein help your ſelp! daraus wird. Kurz, ſie wird national ſein.
Dieſes Moment darf keiner Religion fehlen, vielmehr iſt es der innerſte
Kern und das tiefſte Bedürfniß einer jeden. Die Römer und Griechen
hatten kein Nationalgefühl mehr und die Germanen hatten's noch nicht,
als ſie ihre heutige Religion annahmen. Hier ſtehen die Sachen anders.
Es iſt eigentlich die größte Anomalie, daß das Volk nur die Stempel¬
acte und nicht auch die Religion des Mutterlandes abwarf. In ſeinen
Verhältniſſen kann es gar nichts brauchen von Europa. Der Grund iſt
einzig, daß man Religionen nicht ſo ſchnell macht, wie Conſtitutionen,
obwohl man auch dieſe mitunter zu ſchnell macht. Aber eben darum
ſteht der Islam Amerika's noch bevor.

Bis dahin, ſagte der Doctor, müſſen wir freilich methodiſtiſche
Tobſucht und puritaniſche Starrſucht für unſer liebes altes Chriſten¬
thum gelten laſſen. Unſer einer ſteht ſich am beſten dabei. Man wird
ordentlich Doctor der Medicin und Theologie zugleich bei dieſen chriſt¬
lichen Suchten.

So unterhielten wir uns, indem wir über dieſes Stück amerika¬
niſche Erde ritten. Unſere Zungen lechzten, unſere Pferde ſuchten ohne
alle Anleitung den kurzen Schatten am Wegſaum. Wir waren froh,
das Waldlager zu erreichen. Das Geſchrei: Jeſus komm herab! ertönte
noch immer. Faſt zwei Stunden war ich abweſend geweſen.

Als wir unſere Pferde abgezäumt hatten und in die Wagenburg
eintraten, fand ich Vieles verändert. Die ganze Menſchenwoge lag
nicht mehr breit über den vorhandenen Raum ausgegoſſen, ſondern
zugeſpitzt wie zur Springflut; Alles culminirte in einem dichtge¬
drängten Kreis. Der Kreis war inwendig hohl; drinnen erſcholl jetzt
die Stimme: Jeſus komm herab! aber die umgebende Menge verhielt
ſich ſchweigend. Hoby, der Straßenjunge, war zum Mittelpunkte der
Andacht geworden. — Ich merke, er ſitzt auf dem „Angſtſtuhl“ ſagte
Doctor Althof — bitte, Poll, reichen Sie mir das Beſteck, wenn ich
etwa eine Ader ſchlagen müßte. Erſchrocken machte ich Fragen, aber
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[393/0411] Frivolität Humbug nennen dürfen. Sie wird eine Religion des Unter¬ nehmungsgeiſtes, der Eroberung, eine Religion go ahead ſein. Sie wird das: liebe deinen Nächſten wie dich ſelbſt, ſo lange nationaliſiren, bis ein help your ſelp! daraus wird. Kurz, ſie wird national ſein. Dieſes Moment darf keiner Religion fehlen, vielmehr iſt es der innerſte Kern und das tiefſte Bedürfniß einer jeden. Die Römer und Griechen hatten kein Nationalgefühl mehr und die Germanen hatten's noch nicht, als ſie ihre heutige Religion annahmen. Hier ſtehen die Sachen anders. Es iſt eigentlich die größte Anomalie, daß das Volk nur die Stempel¬ acte und nicht auch die Religion des Mutterlandes abwarf. In ſeinen Verhältniſſen kann es gar nichts brauchen von Europa. Der Grund iſt einzig, daß man Religionen nicht ſo ſchnell macht, wie Conſtitutionen, obwohl man auch dieſe mitunter zu ſchnell macht. Aber eben darum ſteht der Islam Amerika's noch bevor. Bis dahin, ſagte der Doctor, müſſen wir freilich methodiſtiſche Tobſucht und puritaniſche Starrſucht für unſer liebes altes Chriſten¬ thum gelten laſſen. Unſer einer ſteht ſich am beſten dabei. Man wird ordentlich Doctor der Medicin und Theologie zugleich bei dieſen chriſt¬ lichen Suchten. So unterhielten wir uns, indem wir über dieſes Stück amerika¬ niſche Erde ritten. Unſere Zungen lechzten, unſere Pferde ſuchten ohne alle Anleitung den kurzen Schatten am Wegſaum. Wir waren froh, das Waldlager zu erreichen. Das Geſchrei: Jeſus komm herab! ertönte noch immer. Faſt zwei Stunden war ich abweſend geweſen. Als wir unſere Pferde abgezäumt hatten und in die Wagenburg eintraten, fand ich Vieles verändert. Die ganze Menſchenwoge lag nicht mehr breit über den vorhandenen Raum ausgegoſſen, ſondern zugeſpitzt wie zur Springflut; Alles culminirte in einem dichtge¬ drängten Kreis. Der Kreis war inwendig hohl; drinnen erſcholl jetzt die Stimme: Jeſus komm herab! aber die umgebende Menge verhielt ſich ſchweigend. Hoby, der Straßenjunge, war zum Mittelpunkte der Andacht geworden. — Ich merke, er ſitzt auf dem „Angſtſtuhl“ ſagte Doctor Althof — bitte, Poll, reichen Sie mir das Beſteck, wenn ich etwa eine Ader ſchlagen müßte. Erſchrocken machte ich Fragen, aber Althof antwortete: Wir werden ſehen, mein Herr. Er und der ſtuden¬

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Zitationshilfe: Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855, S. 393. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/411>, abgerufen am 24.11.2024.