Heute Nacht weckte mich ein Flintenschuß und Angstgeheul und Todesgeschrei, wie von einer menschlichen Stimme. Ich stand mit Adin Ballan auf; wir zündeten Fackeln an, bewaffneten uns und ritten hinaus in die Waldnacht. Wir knallten unsere Doppelflinten ab und schrien dazu, um einem Hilfebedürftigen unsere Richtung, einem Mörder die Nähe von Rächern zu signalisiren. Schuß und Schrei von der andern Seite aber wiederholte sich nicht wieder, so daß wir ziemlich im Unklaren trieben, wo¬ hin wir uns in der unermeßlichen Waldweite zu wenden. Wir setzten unsre Streife noch lange fort und wiederholten unaufhörlich unsre Allarmzeichen, aber nichts regte sich mehr. Endlich kehrten wir wieder nach Hause zurück. Ich war begreiflich in großer Aufregung und schloß kein Auge mehr. Im Laufe des Tags erklärte sich das Nacht¬ abenteuer. Von der benachbarten Virginiergrenze hatte sich ein ent¬ laufener Sclave über den Ohio gerettet. Aber die Verfolger waren ihm dicht auf der Fährte und zwischen meinem und dem Lisboner Gebiet erreichte ihn die tödtliche Kugel. Farmer von Neu-Lisbon fanden die Leiche im Walde. Die Lisboner behandeln die Unthat wie etwas Alltägliches, von einer Fahndung auf den Mörder ist keine Rede. Jeder Sclavenbesitzer hat das Recht, entflohene Sclaven leben¬ dig oder todt wieder einbringen zu lassen. Sie halten zu diesem Zwecke eigene Leute und -- Hunde! We are in a free country!
Vielleicht genügt es uns an diesen Proben. Blatt für Blatt würden wir so durchblättern und auch nicht Ein lichter Moment, auch nicht Ein reiner, ungetrübter Strahl der Freude wäre die Ausbeute davon. Urwaldspoesie, Jugend- und Freiheitswelt, Menschheitsglück im Westen, Stern einer bessern Zukunft, immer unaufhaltsamer wer¬ den diese Worte zu -- Wörtern, das große Diluvium der Ent¬ täuschung ist nirgend mehr einzudämmen. Es wäre unter diesen Um¬ ständen eine ungerechte Parteilichkeit, von einer persönlichen Anlage zur tragischen Weltanschauung zu reden. Denn erstens ist diese An¬ lage das Erbtheil jedes tieferen Menschen, und dann -- bliebe sie eben nur Anlage, wenn nicht die Außenwelt sie weckte und nährte.
Zwar der idealistische Glaube an Amerika hat in der Brust unsers Helden längst ausgelebt. Wir erinnern uns, daß er schon auf seiner
Heute Nacht weckte mich ein Flintenſchuß und Angſtgeheul und Todesgeſchrei, wie von einer menſchlichen Stimme. Ich ſtand mit Adin Ballan auf; wir zündeten Fackeln an, bewaffneten uns und ritten hinaus in die Waldnacht. Wir knallten unſere Doppelflinten ab und ſchrien dazu, um einem Hilfebedürftigen unſere Richtung, einem Mörder die Nähe von Rächern zu ſignaliſiren. Schuß und Schrei von der andern Seite aber wiederholte ſich nicht wieder, ſo daß wir ziemlich im Unklaren trieben, wo¬ hin wir uns in der unermeßlichen Waldweite zu wenden. Wir ſetzten unſre Streife noch lange fort und wiederholten unaufhörlich unſre Allarmzeichen, aber nichts regte ſich mehr. Endlich kehrten wir wieder nach Hauſe zurück. Ich war begreiflich in großer Aufregung und ſchloß kein Auge mehr. Im Laufe des Tags erklärte ſich das Nacht¬ abenteuer. Von der benachbarten Virginiergrenze hatte ſich ein ent¬ laufener Sclave über den Ohio gerettet. Aber die Verfolger waren ihm dicht auf der Fährte und zwiſchen meinem und dem Lisboner Gebiet erreichte ihn die tödtliche Kugel. Farmer von Neu-Lisbon fanden die Leiche im Walde. Die Lisboner behandeln die Unthat wie etwas Alltägliches, von einer Fahndung auf den Mörder iſt keine Rede. Jeder Sclavenbeſitzer hat das Recht, entflohene Sclaven leben¬ dig oder todt wieder einbringen zu laſſen. Sie halten zu dieſem Zwecke eigene Leute und — Hunde! We are in a free country!
Vielleicht genügt es uns an dieſen Proben. Blatt für Blatt würden wir ſo durchblättern und auch nicht Ein lichter Moment, auch nicht Ein reiner, ungetrübter Strahl der Freude wäre die Ausbeute davon. Urwaldspoeſie, Jugend- und Freiheitswelt, Menſchheitsglück im Weſten, Stern einer beſſern Zukunft, immer unaufhaltſamer wer¬ den dieſe Worte zu — Wörtern, das große Diluvium der Ent¬ täuſchung iſt nirgend mehr einzudämmen. Es wäre unter dieſen Um¬ ſtänden eine ungerechte Parteilichkeit, von einer perſönlichen Anlage zur tragiſchen Weltanſchauung zu reden. Denn erſtens iſt dieſe An¬ lage das Erbtheil jedes tieferen Menſchen, und dann — bliebe ſie eben nur Anlage, wenn nicht die Außenwelt ſie weckte und nährte.
Zwar der idealiſtiſche Glaube an Amerika hat in der Bruſt unſers Helden längſt ausgelebt. Wir erinnern uns, daß er ſchon auf ſeiner
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Heute Nacht weckte mich ein Flintenſchuß und Angſtgeheul und
Todesgeſchrei, wie von einer menſchlichen Stimme. Ich ſtand mit Adin
Ballan auf; wir zündeten Fackeln an, bewaffneten uns und ritten
hinaus in die Waldnacht. Wir knallten unſere Doppelflinten ab und ſchrien
dazu, um einem Hilfebedürftigen unſere Richtung, einem Mörder die Nähe
von Rächern zu ſignaliſiren. Schuß und Schrei von der andern Seite aber
wiederholte ſich nicht wieder, ſo daß wir ziemlich im Unklaren trieben, wo¬
hin wir uns in der unermeßlichen Waldweite zu wenden. Wir ſetzten
unſre Streife noch lange fort und wiederholten unaufhörlich unſre
Allarmzeichen, aber nichts regte ſich mehr. Endlich kehrten wir wieder
nach Hauſe zurück. Ich war begreiflich in großer Aufregung und
ſchloß kein Auge mehr. Im Laufe des Tags erklärte ſich das Nacht¬
abenteuer. Von der benachbarten Virginiergrenze hatte ſich ein ent¬
laufener Sclave über den Ohio gerettet. Aber die Verfolger waren
ihm dicht auf der Fährte und zwiſchen meinem und dem Lisboner
Gebiet erreichte ihn die tödtliche Kugel. Farmer von Neu-Lisbon
fanden die Leiche im Walde. Die Lisboner behandeln die Unthat wie
etwas Alltägliches, von einer Fahndung auf den Mörder iſt keine
Rede. Jeder Sclavenbeſitzer hat das Recht, entflohene Sclaven leben¬
dig oder todt wieder einbringen zu laſſen. Sie halten zu dieſem
Zwecke eigene Leute und — Hunde! We are in a free country!
Vielleicht genügt es uns an dieſen Proben. Blatt für Blatt
würden wir ſo durchblättern und auch nicht Ein lichter Moment, auch
nicht Ein reiner, ungetrübter Strahl der Freude wäre die Ausbeute
davon. Urwaldspoeſie, Jugend- und Freiheitswelt, Menſchheitsglück
im Weſten, Stern einer beſſern Zukunft, immer unaufhaltſamer wer¬
den dieſe Worte zu — Wörtern, das große Diluvium der Ent¬
täuſchung iſt nirgend mehr einzudämmen. Es wäre unter dieſen Um¬
ſtänden eine ungerechte Parteilichkeit, von einer perſönlichen Anlage
zur tragiſchen Weltanſchauung zu reden. Denn erſtens iſt dieſe An¬
lage das Erbtheil jedes tieferen Menſchen, und dann — bliebe ſie
eben nur Anlage, wenn nicht die Außenwelt ſie weckte und nährte.
Zwar der idealiſtiſche Glaube an Amerika hat in der Bruſt unſers
Helden längſt ausgelebt. Wir erinnern uns, daß er ſchon auf ſeiner
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Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855, S. 367. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/385>, abgerufen am 24.11.2024.
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