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Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855.

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rufen schien. Der jugendliche Schreier war bisher stets unsichtbar ge¬
blieben, denn die Battery hatte in dieser späten Vormittagsstunde wenig
Besuch und der kleine Autochthone kannte ohne Zweifel seinen Markt.
Endlich aber verirrte er sich doch in die Anlage. Zeitungen waren's
die er ausrief. Er that dies mit der ganzen Inhaltsanzeige der Tages¬
nummer. Der Fremde horchte hoch auf. So viel er hier zu hören
bekam, waren die Völker von halb Europa in Aufstand, einige Könige
verjagt, viele Minister hingerichtet, die vornehmsten Börsenhäupter bankrott,
mehrere Städte versunken, und ein teuflisch-raffinirter Doppel-Gatten¬
mord machte den unschuldigen Schluß der Nippes-Artikelchen. Dem
Europäer blieb zwischen Staunen und Lachen zu entscheiden anheimge¬
stellt, ob hier Orts die Redaktionen selbst ihre Zeitungen so kühn über¬
würzen, oder ob das Genie ihrer Colporteurs auf eigene Verantwortung
diesen schwindelnden Flug nimmt. Jedenfalls aber war es landesübliche
Geschäftspraxis, denn er sah an den Mienen der Vorübergehenden, daß
sie nichts Außerordentliches hörten. Indeß wollte er Neugierde halber
die Nummer erstehen und war eben im Begriffe, den marktschreien¬
den Newsboy aus der Ferne zu sich zu winken: da änderte sich
die Sache. Der Knabe colportirte noch eine andere Waare -- eine
unnennbare! Denn auf einmal schrie er den Titel eines Preßerzeug¬
nisses in die helle, freie Luft hinaus -- dem Fremden schoß alles
Blut in's Gesicht! Erschrocken blickte er um sich -- leider sahen die
Vorübergehenden so gleichgiltig dazu, wie zuvor! Also auch landes¬
üblich! Preßfreiheit und Preßscheußlichkeit in unmittelbarster Berührung!
Neben dem römischen Triumphator ging so ein Sclave einher, der sein
Zerrbild und Affe war.

Aber das Aergerniß wurde noch ärger. Der Junge schlug mit
seinem schamlosen Geschrei einen Baumgang ein, in welchem drei junge
Damen von feinstem Aeußeren an der Seite ihrer Begleiter promenir¬
ten. Dieser Umstand beengte indeß den rücksichtslosen Kaufmann nicht
im Geringsten. Vergebens erwartet unser Zuschauer, daß er verstum¬
men wird: mit nichten; er fährt auf's Zwangloseste fort, sein Kauf¬
gut auszurufen. Vergebens erwartet er selbst, daß die Herren der
Damen einschreiten werden: es unterbleibt; sie ehren die Freiheit des
Handels und Wandels. Entsetzlich! Nimmt man diesen Unfug hin,
wie -- irgend eine Scene des Thierlebens auf der Straße? Geschieht

rufen ſchien. Der jugendliche Schreier war bisher ſtets unſichtbar ge¬
blieben, denn die Battery hatte in dieſer ſpäten Vormittagsſtunde wenig
Beſuch und der kleine Autochthone kannte ohne Zweifel ſeinen Markt.
Endlich aber verirrte er ſich doch in die Anlage. Zeitungen waren's
die er ausrief. Er that dies mit der ganzen Inhaltsanzeige der Tages¬
nummer. Der Fremde horchte hoch auf. So viel er hier zu hören
bekam, waren die Völker von halb Europa in Aufſtand, einige Könige
verjagt, viele Miniſter hingerichtet, die vornehmſten Börſenhäupter bankrott,
mehrere Städte verſunken, und ein teufliſch-raffinirter Doppel-Gatten¬
mord machte den unſchuldigen Schluß der Nippes-Artikelchen. Dem
Europäer blieb zwiſchen Staunen und Lachen zu entſcheiden anheimge¬
ſtellt, ob hier Orts die Redaktionen ſelbſt ihre Zeitungen ſo kühn über¬
würzen, oder ob das Genie ihrer Colporteurs auf eigene Verantwortung
dieſen ſchwindelnden Flug nimmt. Jedenfalls aber war es landesübliche
Geſchäftspraxis, denn er ſah an den Mienen der Vorübergehenden, daß
ſie nichts Außerordentliches hörten. Indeß wollte er Neugierde halber
die Nummer erſtehen und war eben im Begriffe, den marktſchreien¬
den Newsboy aus der Ferne zu ſich zu winken: da änderte ſich
die Sache. Der Knabe colportirte noch eine andere Waare — eine
unnennbare! Denn auf einmal ſchrie er den Titel eines Preßerzeug¬
niſſes in die helle, freie Luft hinaus — dem Fremden ſchoß alles
Blut in's Geſicht! Erſchrocken blickte er um ſich — leider ſahen die
Vorübergehenden ſo gleichgiltig dazu, wie zuvor! Alſo auch landes¬
üblich! Preßfreiheit und Preßſcheußlichkeit in unmittelbarſter Berührung!
Neben dem römiſchen Triumphator ging ſo ein Sclave einher, der ſein
Zerrbild und Affe war.

Aber das Aergerniß wurde noch ärger. Der Junge ſchlug mit
ſeinem ſchamloſen Geſchrei einen Baumgang ein, in welchem drei junge
Damen von feinſtem Aeußeren an der Seite ihrer Begleiter promenir¬
ten. Dieſer Umſtand beengte indeß den rückſichtsloſen Kaufmann nicht
im Geringſten. Vergebens erwartet unſer Zuſchauer, daß er verſtum¬
men wird: mit nichten; er fährt auf's Zwangloſeſte fort, ſein Kauf¬
gut auszurufen. Vergebens erwartet er ſelbſt, daß die Herren der
Damen einſchreiten werden: es unterbleibt; ſie ehren die Freiheit des
Handels und Wandels. Entſetzlich! Nimmt man dieſen Unfug hin,
wie — irgend eine Scene des Thierlebens auf der Straße? Geſchieht

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[8/0026] rufen ſchien. Der jugendliche Schreier war bisher ſtets unſichtbar ge¬ blieben, denn die Battery hatte in dieſer ſpäten Vormittagsſtunde wenig Beſuch und der kleine Autochthone kannte ohne Zweifel ſeinen Markt. Endlich aber verirrte er ſich doch in die Anlage. Zeitungen waren's die er ausrief. Er that dies mit der ganzen Inhaltsanzeige der Tages¬ nummer. Der Fremde horchte hoch auf. So viel er hier zu hören bekam, waren die Völker von halb Europa in Aufſtand, einige Könige verjagt, viele Miniſter hingerichtet, die vornehmſten Börſenhäupter bankrott, mehrere Städte verſunken, und ein teufliſch-raffinirter Doppel-Gatten¬ mord machte den unſchuldigen Schluß der Nippes-Artikelchen. Dem Europäer blieb zwiſchen Staunen und Lachen zu entſcheiden anheimge¬ ſtellt, ob hier Orts die Redaktionen ſelbſt ihre Zeitungen ſo kühn über¬ würzen, oder ob das Genie ihrer Colporteurs auf eigene Verantwortung dieſen ſchwindelnden Flug nimmt. Jedenfalls aber war es landesübliche Geſchäftspraxis, denn er ſah an den Mienen der Vorübergehenden, daß ſie nichts Außerordentliches hörten. Indeß wollte er Neugierde halber die Nummer erſtehen und war eben im Begriffe, den marktſchreien¬ den Newsboy aus der Ferne zu ſich zu winken: da änderte ſich die Sache. Der Knabe colportirte noch eine andere Waare — eine unnennbare! Denn auf einmal ſchrie er den Titel eines Preßerzeug¬ niſſes in die helle, freie Luft hinaus — dem Fremden ſchoß alles Blut in's Geſicht! Erſchrocken blickte er um ſich — leider ſahen die Vorübergehenden ſo gleichgiltig dazu, wie zuvor! Alſo auch landes¬ üblich! Preßfreiheit und Preßſcheußlichkeit in unmittelbarſter Berührung! Neben dem römiſchen Triumphator ging ſo ein Sclave einher, der ſein Zerrbild und Affe war. Aber das Aergerniß wurde noch ärger. Der Junge ſchlug mit ſeinem ſchamloſen Geſchrei einen Baumgang ein, in welchem drei junge Damen von feinſtem Aeußeren an der Seite ihrer Begleiter promenir¬ ten. Dieſer Umſtand beengte indeß den rückſichtsloſen Kaufmann nicht im Geringſten. Vergebens erwartet unſer Zuſchauer, daß er verſtum¬ men wird: mit nichten; er fährt auf's Zwangloſeſte fort, ſein Kauf¬ gut auszurufen. Vergebens erwartet er ſelbſt, daß die Herren der Damen einſchreiten werden: es unterbleibt; ſie ehren die Freiheit des Handels und Wandels. Entſetzlich! Nimmt man dieſen Unfug hin, wie — irgend eine Scene des Thierlebens auf der Straße? Geſchieht

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Zitationshilfe: Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/26>, abgerufen am 24.11.2024.