falschgegriffenen Noten. Abends ist in diesem oder jenem Hotel viel¬ leicht Ball; junge Herren, die in irgend einem Quäcker-Seminar Tanz¬ stunden bezahlt haben, riskiren eine Ecossaise, welcher man nicht leicht anmerkt, wie viel Honorar-Marken in ihr stecken. Die Tänzerin unter¬ hält gewöhnlich den Tänzer von ihren Verdauungsbeschwerden. Sie lenkt dadurch auf eine keusche Weise seine Phantasie von den Bahnen der Sünde zwar räumlich nur wenig, im Uebrigen aber desto gründ¬ licher ab. Ich habe in Saratoga oft den Gedanken gehabt, eine Zei¬ tung für Unverdaulichkeit herauszugeben. Bei der ungemeinen Popu¬ larität dieses Themas, welches in Saratoga von der Elite unserer Bevölkerung repräsentirt wird (die Stadt ist ein wahrer Congreßort, ein zweites Washington dafür) könnte ich mich zu der ersten Macht des Landes dadurch emporschwingen. Ich bitte die Herren um Dis¬ cretion, denn vielleicht setze ich mir wirklich noch die Krone der Dispepsie auf dieses Haupt. Inzwischen bin ich mit der Tagesordnung unsres reizenden Badeaufenthaltes zu Ende. Zuweilen verabredet man aber wohl auch eine Vergnügungsfahrt nach einem kleinen See, der wenige Stunden in der Nähe liegt. Dort steht die ganze Gesellschaft auf einem plattbehauenen Steine am Uferrand, wirft ihre Angeln aus und hat Geduld. Uebereingekommener Maßen nennt man das ein Vergnügen. Ein Vergnügen mag es wohl sein, aber eines jener bescheidenen, von welchen Goethe sagt, daß sie von Leiden kaum zu unterscheiden. Freilich ereignet sich's fast in jeder Saison einmal, daß eine junge Lady aus dem Institute wirklich ein Schneiderlein fängt. Dieser Fisch wird dann mit großem Jubel aufgenommen, blos weil er lebendig ist. Es ist ein Ereigniß, das nicht ohne erschütternden Ein¬ fluß auf das Gleichgewicht der Alltagsstimmung bleibt. Die Geister beginnen wilder zu schwärmen. Die junge Lady, die sich überzeugt hat, daß nicht blos in Bilderbüchern, sondern in der Natur selbst Fische vorkommen, wächst auf einmal über ihren See hinaus. Sie phantasirt vom Erie und von den "Fällen". Der Einfall zündet, und an die¬ sem Punkte ist es, wo wir das fashionable Saratoga aus unsern Augen verlieren. Eh' wir es uns versehen, ist die ganze Gesellschaft am Niagara. Sie ist fort, unaufhaltsam fort. Man brauchte den Gedanken nur anzuregen, um ihn auszuführen. Denn der Yankee liebt die erhabene Natur und hat einen angebornen poetischen Sinn
falſchgegriffenen Noten. Abends iſt in dieſem oder jenem Hôtel viel¬ leicht Ball; junge Herren, die in irgend einem Quäcker-Seminar Tanz¬ ſtunden bezahlt haben, riskiren eine Ecoſſaiſe, welcher man nicht leicht anmerkt, wie viel Honorar-Marken in ihr ſtecken. Die Tänzerin unter¬ hält gewöhnlich den Tänzer von ihren Verdauungsbeſchwerden. Sie lenkt dadurch auf eine keuſche Weiſe ſeine Phantaſie von den Bahnen der Sünde zwar räumlich nur wenig, im Uebrigen aber deſto gründ¬ licher ab. Ich habe in Saratoga oft den Gedanken gehabt, eine Zei¬ tung für Unverdaulichkeit herauszugeben. Bei der ungemeinen Popu¬ larität dieſes Themas, welches in Saratoga von der Elite unſerer Bevölkerung repräſentirt wird (die Stadt iſt ein wahrer Congreßort, ein zweites Waſhington dafür) könnte ich mich zu der erſten Macht des Landes dadurch emporſchwingen. Ich bitte die Herren um Dis¬ cretion, denn vielleicht ſetze ich mir wirklich noch die Krone der Diſpepſie auf dieſes Haupt. Inzwiſchen bin ich mit der Tagesordnung unſres reizenden Badeaufenthaltes zu Ende. Zuweilen verabredet man aber wohl auch eine Vergnügungsfahrt nach einem kleinen See, der wenige Stunden in der Nähe liegt. Dort ſteht die ganze Geſellſchaft auf einem plattbehauenen Steine am Uferrand, wirft ihre Angeln aus und hat Geduld. Uebereingekommener Maßen nennt man das ein Vergnügen. Ein Vergnügen mag es wohl ſein, aber eines jener beſcheidenen, von welchen Goethe ſagt, daß ſie von Leiden kaum zu unterſcheiden. Freilich ereignet ſich's faſt in jeder Saiſon einmal, daß eine junge Lady aus dem Inſtitute wirklich ein Schneiderlein fängt. Dieſer Fiſch wird dann mit großem Jubel aufgenommen, blos weil er lebendig iſt. Es iſt ein Ereigniß, das nicht ohne erſchütternden Ein¬ fluß auf das Gleichgewicht der Alltagsſtimmung bleibt. Die Geiſter beginnen wilder zu ſchwärmen. Die junge Lady, die ſich überzeugt hat, daß nicht blos in Bilderbüchern, ſondern in der Natur ſelbſt Fiſche vorkommen, wächst auf einmal über ihren See hinaus. Sie phantaſirt vom Erie und von den „Fällen“. Der Einfall zündet, und an die¬ ſem Punkte iſt es, wo wir das faſhionable Saratoga aus unſern Augen verlieren. Eh' wir es uns verſehen, iſt die ganze Geſellſchaft am Niagara. Sie iſt fort, unaufhaltſam fort. Man brauchte den Gedanken nur anzuregen, um ihn auszuführen. Denn der Yankee liebt die erhabene Natur und hat einen angebornen poetiſchen Sinn
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falſchgegriffenen Noten. Abends iſt in dieſem oder jenem Hôtel viel¬
leicht Ball; junge Herren, die in irgend einem Quäcker-Seminar Tanz¬
ſtunden bezahlt haben, riskiren eine Ecoſſaiſe, welcher man nicht leicht
anmerkt, wie viel Honorar-Marken in ihr ſtecken. Die Tänzerin unter¬
hält gewöhnlich den Tänzer von ihren Verdauungsbeſchwerden. Sie
lenkt dadurch auf eine keuſche Weiſe ſeine Phantaſie von den Bahnen
der Sünde zwar räumlich nur wenig, im Uebrigen aber deſto gründ¬
licher ab. Ich habe in Saratoga oft den Gedanken gehabt, eine Zei¬
tung für Unverdaulichkeit herauszugeben. Bei der ungemeinen Popu¬
larität dieſes Themas, welches in Saratoga von der Elite unſerer
Bevölkerung repräſentirt wird (die Stadt iſt ein wahrer Congreßort,
ein zweites Waſhington dafür) könnte ich mich zu der erſten Macht
des Landes dadurch emporſchwingen. Ich bitte die Herren um Dis¬
cretion, denn vielleicht ſetze ich mir wirklich noch die Krone der Diſpepſie
auf dieſes Haupt. Inzwiſchen bin ich mit der Tagesordnung unſres
reizenden Badeaufenthaltes zu Ende. Zuweilen verabredet man aber
wohl auch eine Vergnügungsfahrt nach einem kleinen See, der wenige
Stunden in der Nähe liegt. Dort ſteht die ganze Geſellſchaft auf
einem plattbehauenen Steine am Uferrand, wirft ihre Angeln aus
und hat Geduld. Uebereingekommener Maßen nennt man das ein
Vergnügen. Ein Vergnügen mag es wohl ſein, aber eines jener
beſcheidenen, von welchen Goethe ſagt, daß ſie von Leiden kaum zu
unterſcheiden. Freilich ereignet ſich's faſt in jeder Saiſon einmal, daß
eine junge Lady aus dem Inſtitute wirklich ein Schneiderlein fängt.
Dieſer Fiſch wird dann mit großem Jubel aufgenommen, blos weil er
lebendig iſt. Es iſt ein Ereigniß, das nicht ohne erſchütternden Ein¬
fluß auf das Gleichgewicht der Alltagsſtimmung bleibt. Die Geiſter
beginnen wilder zu ſchwärmen. Die junge Lady, die ſich überzeugt
hat, daß nicht blos in Bilderbüchern, ſondern in der Natur ſelbſt Fiſche
vorkommen, wächst auf einmal über ihren See hinaus. Sie phantaſirt
vom Erie und von den „Fällen“. Der Einfall zündet, und an die¬
ſem Punkte iſt es, wo wir das faſhionable Saratoga aus unſern
Augen verlieren. Eh' wir es uns verſehen, iſt die ganze Geſellſchaft
am Niagara. Sie iſt fort, unaufhaltſam fort. Man brauchte den
Gedanken nur anzuregen, um ihn auszuführen. Denn der Yankee
liebt die erhabene Natur und hat einen angebornen poetiſchen Sinn
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Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/244>, abgerufen am 25.11.2024.
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