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Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855.

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gemußt, so lag es ganz in der attischen Liberalität dieses Kreises, daß
jetzt der Hausherr selbst von der Laune seiner Gäste nicht unberührt
bleiben sollte. Denn Dr. Channing, von dem Toaste Gelegenheit zu
einem seiner satyrischen Streifzüge nehmend, erwiederte denselben zwar
in der gebührenden Haltung, entwarf aber gleich hinterdrein folgendes Bild
von der Saratoga-Saison: Ich ziehe mich mit Vorliebe nach Saratoga
zurück, sagte er, wenn ich von Geschäften ausruhen will. Man ruht
nirgends gründlicher aus als dort. Wie Bären einen Winterschlaf
halten, so ist Saratoga gleichsam die gemeinsame Höhle, in welcher
freie und aufgeklärte Bürger einer Art Sommer-Erstarrung genießen --
man erlaube das paradoxe Wort. Der Saratogabrunnen schien mir
von jeher das, was die Alten ihren Lethe nannten. Es ist wirklich
der Hoch- und Fein-Gehalt jener Langweile dort, welche Fremde in
unsrer sonstigen Geselligkeit mitunter entdeckt haben wollen -- zumal
an Sonntagen. Saratoga ist eine Welt voll Sonntagen. Eigentlich
ist von Welt nicht wohl die Rede mehr in Saratoga; das Wort ist
viel zu körperlich, Saratoga fängt erst an, wo die Welt aufhört.
Saratoga ist eine Null, die Umgränzung eines leeren Raumes mit
einer Linie. Wir sind auch hierin vorzüglicher als andere Völker,
welche ihre Bäder mit den lockendsten Anreizungen zur Sünde aus¬
statten. In Saratoga sündigt man nicht. Das Leben ist dort so
rein von Flecken, wie ein Mensch, dem man die Haut abgezogen hat,
von Sommersprossen. Man trinkt Morgens seinen Brunnen und
macht eine Promenade. Die Gäste, welche natürlich alle verdauungs¬
krank sind, unterhalten sich dabei stets von ihrem Magen und nie von
ihrem Herzen. Das ist eine moralische Conversation; denn das Herz
ist verderbter als der verdorbenste Magen, wie fromme Leute behaupten,
in deren Munde dieser Satz seine vollste Glaubwürdigkeit hat. Zu
Mittag speiset die ganze Gesellschaft in einem langen schmalen Saal
mit einer niederen Decke, der, wie ich mich erinnere, mir den Eindruck
eines Sarges gemacht hat. Die Gäste unterhalten sich über Tische
von ihren Verdauungsbeschwerden, was eine heilsame Reaction auf
ihren Appetit ausübt, wobei dem Laster Fraß und Völlerei ein Damm
gesetzt wird. Ist abgespeist, so lehnen sich die Herren über die Balkons
und rauchen eine Cigarre, die Damen sitzen in ihren Gesellschafts¬
zimmern, lesen, stricken Filet, oder quälen ein verstimmtes Piano mit

D.B.Vlll. Der Amerika-Müde. 15

gemußt, ſo lag es ganz in der attiſchen Liberalität dieſes Kreiſes, daß
jetzt der Hausherr ſelbſt von der Laune ſeiner Gäſte nicht unberührt
bleiben ſollte. Denn Dr. Channing, von dem Toaſte Gelegenheit zu
einem ſeiner ſatyriſchen Streifzüge nehmend, erwiederte denſelben zwar
in der gebührenden Haltung, entwarf aber gleich hinterdrein folgendes Bild
von der Saratoga-Saiſon: Ich ziehe mich mit Vorliebe nach Saratoga
zurück, ſagte er, wenn ich von Geſchäften ausruhen will. Man ruht
nirgends gründlicher aus als dort. Wie Bären einen Winterſchlaf
halten, ſo iſt Saratoga gleichſam die gemeinſame Höhle, in welcher
freie und aufgeklärte Bürger einer Art Sommer-Erſtarrung genießen —
man erlaube das paradoxe Wort. Der Saratogabrunnen ſchien mir
von jeher das, was die Alten ihren Lethe nannten. Es iſt wirklich
der Hoch- und Fein-Gehalt jener Langweile dort, welche Fremde in
unſrer ſonſtigen Geſelligkeit mitunter entdeckt haben wollen — zumal
an Sonntagen. Saratoga iſt eine Welt voll Sonntagen. Eigentlich
iſt von Welt nicht wohl die Rede mehr in Saratoga; das Wort iſt
viel zu körperlich, Saratoga fängt erſt an, wo die Welt aufhört.
Saratoga iſt eine Null, die Umgränzung eines leeren Raumes mit
einer Linie. Wir ſind auch hierin vorzüglicher als andere Völker,
welche ihre Bäder mit den lockendſten Anreizungen zur Sünde aus¬
ſtatten. In Saratoga ſündigt man nicht. Das Leben iſt dort ſo
rein von Flecken, wie ein Menſch, dem man die Haut abgezogen hat,
von Sommerſproſſen. Man trinkt Morgens ſeinen Brunnen und
macht eine Promenade. Die Gäſte, welche natürlich alle verdauungs¬
krank ſind, unterhalten ſich dabei ſtets von ihrem Magen und nie von
ihrem Herzen. Das iſt eine moraliſche Converſation; denn das Herz
iſt verderbter als der verdorbenſte Magen, wie fromme Leute behaupten,
in deren Munde dieſer Satz ſeine vollſte Glaubwürdigkeit hat. Zu
Mittag ſpeiſet die ganze Geſellſchaft in einem langen ſchmalen Saal
mit einer niederen Decke, der, wie ich mich erinnere, mir den Eindruck
eines Sarges gemacht hat. Die Gäſte unterhalten ſich über Tiſche
von ihren Verdauungsbeſchwerden, was eine heilſame Reaction auf
ihren Appetit ausübt, wobei dem Laſter Fraß und Völlerei ein Damm
geſetzt wird. Iſt abgeſpeist, ſo lehnen ſich die Herren über die Balkons
und rauchen eine Cigarre, die Damen ſitzen in ihren Geſellſchafts¬
zimmern, leſen, ſtricken Filet, oder quälen ein verſtimmtes Piano mit

D.B.Vlll. Der Amerika-Müde. 15
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[225/0243] gemußt, ſo lag es ganz in der attiſchen Liberalität dieſes Kreiſes, daß jetzt der Hausherr ſelbſt von der Laune ſeiner Gäſte nicht unberührt bleiben ſollte. Denn Dr. Channing, von dem Toaſte Gelegenheit zu einem ſeiner ſatyriſchen Streifzüge nehmend, erwiederte denſelben zwar in der gebührenden Haltung, entwarf aber gleich hinterdrein folgendes Bild von der Saratoga-Saiſon: Ich ziehe mich mit Vorliebe nach Saratoga zurück, ſagte er, wenn ich von Geſchäften ausruhen will. Man ruht nirgends gründlicher aus als dort. Wie Bären einen Winterſchlaf halten, ſo iſt Saratoga gleichſam die gemeinſame Höhle, in welcher freie und aufgeklärte Bürger einer Art Sommer-Erſtarrung genießen — man erlaube das paradoxe Wort. Der Saratogabrunnen ſchien mir von jeher das, was die Alten ihren Lethe nannten. Es iſt wirklich der Hoch- und Fein-Gehalt jener Langweile dort, welche Fremde in unſrer ſonſtigen Geſelligkeit mitunter entdeckt haben wollen — zumal an Sonntagen. Saratoga iſt eine Welt voll Sonntagen. Eigentlich iſt von Welt nicht wohl die Rede mehr in Saratoga; das Wort iſt viel zu körperlich, Saratoga fängt erſt an, wo die Welt aufhört. Saratoga iſt eine Null, die Umgränzung eines leeren Raumes mit einer Linie. Wir ſind auch hierin vorzüglicher als andere Völker, welche ihre Bäder mit den lockendſten Anreizungen zur Sünde aus¬ ſtatten. In Saratoga ſündigt man nicht. Das Leben iſt dort ſo rein von Flecken, wie ein Menſch, dem man die Haut abgezogen hat, von Sommerſproſſen. Man trinkt Morgens ſeinen Brunnen und macht eine Promenade. Die Gäſte, welche natürlich alle verdauungs¬ krank ſind, unterhalten ſich dabei ſtets von ihrem Magen und nie von ihrem Herzen. Das iſt eine moraliſche Converſation; denn das Herz iſt verderbter als der verdorbenſte Magen, wie fromme Leute behaupten, in deren Munde dieſer Satz ſeine vollſte Glaubwürdigkeit hat. Zu Mittag ſpeiſet die ganze Geſellſchaft in einem langen ſchmalen Saal mit einer niederen Decke, der, wie ich mich erinnere, mir den Eindruck eines Sarges gemacht hat. Die Gäſte unterhalten ſich über Tiſche von ihren Verdauungsbeſchwerden, was eine heilſame Reaction auf ihren Appetit ausübt, wobei dem Laſter Fraß und Völlerei ein Damm geſetzt wird. Iſt abgeſpeist, ſo lehnen ſich die Herren über die Balkons und rauchen eine Cigarre, die Damen ſitzen in ihren Geſellſchafts¬ zimmern, leſen, ſtricken Filet, oder quälen ein verſtimmtes Piano mit D.B.Vlll. Der Amerika-Müde. 15

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Zitationshilfe: Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/243>, abgerufen am 22.11.2024.