Petersburg und London müssen eben so riesige Dimensionen ihrer Regierungsgebiete bezwingen. Rußland centralisirt durch den Despo¬ tismus und den Schnee, England colonisirt für den Abfall. Und wahrlich, Amerika geht diesen beiden Schicksalen zugleich entgegen. Mit dem Abfall bedrohen sich Nord und Süd schon jetzt, ist das stille Meer erreicht, so werden sich auch Ost und West damit bedrohen. Der Despotismus wird gleichfalls seine Entrepreneurs finden.
Diese letztere Behauptung könnte die kühnste, und in Bezug auf ein so großes menschliches Ideal, wie Amerika's Freiheit, wahrhaft unsittlich scheinen. In der That wäre sie zu unverantwortlich, als Raisonnement, man wird sie schon als Thatsache gelten lassen müssen. Die Anfänge dieser Thatsache aber sind da. Denn wenn wir die Ungleichartigkeit der amerikanischen Bestandtheile nicht nur im allge¬ meinen betrachten, sondern, was für Republiken ein so zarter Punkt ist, sie speciell als Ungleichartigkeit der Machtverhältnisse auf's Einzelne anwenden, so finden wir die Thatsache, daß drei große west¬ liche Staaten: Newyork, Pennsilvanien und Virginien, in Besitz einer Macht sind, wodurch sie in Wahrheit an der Spitze der Sternbanner- Republik stehen, allen republikanischen Gleichheitstiteln ihrer Geschwister zum Trotz. Diese Macht ist freilich kein constitutionelles Vorrecht, aber sie ist das natürliche Vorrecht des Reichthums, der Intelligenz, der politischen Erfahrung, kurz, materielle und moralische Macht. So sind jene Staaten ein Triumvirat, das die Angelegenheiten der Republik nur mit einem höflicher betonten: Roma locuta est*) entscheidet, sie sind ein politisches Rund für sich, das nöthigen Falls nicht dem Uebrigen zu folgen braucht, wohl aber folgt das Uebrige ihm. Was fehlt da noch zum Begriffe der Oberherrschaft oder des Despotismus? Wie groß ist der Unterschied, ob der Despot ein Einzelner oder eine Pro¬ vinz sei, ob seine Autorität mit friedlicher Instinctmäßigkeit anerkannt, oder unter härterer Nöthigung erduldet wird? Das Fehlende aber kann, und was höchst wahrscheinlich ist, es wird im Laufe der Zei¬ ten auch noch hinzutreten. Denn wenn die sociale Revolution oder der politische Zerfall, wovon wir gesprochen, unter einer Reihe von Bürgerkriegen nun vor sich gehen wird, so werden die Generäle dieser
*) Rom hat gesprochen.
Petersburg und London müſſen eben ſo rieſige Dimenſionen ihrer Regierungsgebiete bezwingen. Rußland centraliſirt durch den Despo¬ tismus und den Schnee, England coloniſirt für den Abfall. Und wahrlich, Amerika geht dieſen beiden Schickſalen zugleich entgegen. Mit dem Abfall bedrohen ſich Nord und Süd ſchon jetzt, iſt das ſtille Meer erreicht, ſo werden ſich auch Oſt und Weſt damit bedrohen. Der Despotismus wird gleichfalls ſeine Entrepreneurs finden.
Dieſe letztere Behauptung könnte die kühnſte, und in Bezug auf ein ſo großes menſchliches Ideal, wie Amerika's Freiheit, wahrhaft unſittlich ſcheinen. In der That wäre ſie zu unverantwortlich, als Raiſonnement, man wird ſie ſchon als Thatſache gelten laſſen müſſen. Die Anfänge dieſer Thatſache aber ſind da. Denn wenn wir die Ungleichartigkeit der amerikaniſchen Beſtandtheile nicht nur im allge¬ meinen betrachten, ſondern, was für Republiken ein ſo zarter Punkt iſt, ſie ſpeciell als Ungleichartigkeit der Machtverhältniſſe auf's Einzelne anwenden, ſo finden wir die Thatſache, daß drei große weſt¬ liche Staaten: Newyork, Pennſilvanien und Virginien, in Beſitz einer Macht ſind, wodurch ſie in Wahrheit an der Spitze der Sternbanner- Republik ſtehen, allen republikaniſchen Gleichheitstiteln ihrer Geſchwiſter zum Trotz. Dieſe Macht iſt freilich kein conſtitutionelles Vorrecht, aber ſie iſt das natürliche Vorrecht des Reichthums, der Intelligenz, der politiſchen Erfahrung, kurz, materielle und moraliſche Macht. So ſind jene Staaten ein Triumvirat, das die Angelegenheiten der Republik nur mit einem höflicher betonten: Roma locuta est*) entſcheidet, ſie ſind ein politiſches Rund für ſich, das nöthigen Falls nicht dem Uebrigen zu folgen braucht, wohl aber folgt das Uebrige ihm. Was fehlt da noch zum Begriffe der Oberherrſchaft oder des Despotismus? Wie groß iſt der Unterſchied, ob der Despot ein Einzelner oder eine Pro¬ vinz ſei, ob ſeine Autorität mit friedlicher Inſtinctmäßigkeit anerkannt, oder unter härterer Nöthigung erduldet wird? Das Fehlende aber kann, und was höchſt wahrſcheinlich iſt, es wird im Laufe der Zei¬ ten auch noch hinzutreten. Denn wenn die ſociale Revolution oder der politiſche Zerfall, wovon wir geſprochen, unter einer Reihe von Bürgerkriegen nun vor ſich gehen wird, ſo werden die Generäle dieſer
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[173/0191]
Petersburg und London müſſen eben ſo rieſige Dimenſionen ihrer
Regierungsgebiete bezwingen. Rußland centraliſirt durch den Despo¬
tismus und den Schnee, England coloniſirt für den Abfall. Und
wahrlich, Amerika geht dieſen beiden Schickſalen zugleich entgegen.
Mit dem Abfall bedrohen ſich Nord und Süd ſchon jetzt, iſt das ſtille
Meer erreicht, ſo werden ſich auch Oſt und Weſt damit bedrohen.
Der Despotismus wird gleichfalls ſeine Entrepreneurs finden.
Dieſe letztere Behauptung könnte die kühnſte, und in Bezug auf
ein ſo großes menſchliches Ideal, wie Amerika's Freiheit, wahrhaft
unſittlich ſcheinen. In der That wäre ſie zu unverantwortlich, als
Raiſonnement, man wird ſie ſchon als Thatſache gelten laſſen müſſen.
Die Anfänge dieſer Thatſache aber ſind da. Denn wenn wir die
Ungleichartigkeit der amerikaniſchen Beſtandtheile nicht nur im allge¬
meinen betrachten, ſondern, was für Republiken ein ſo zarter Punkt
iſt, ſie ſpeciell als Ungleichartigkeit der Machtverhältniſſe auf's
Einzelne anwenden, ſo finden wir die Thatſache, daß drei große weſt¬
liche Staaten: Newyork, Pennſilvanien und Virginien, in Beſitz einer
Macht ſind, wodurch ſie in Wahrheit an der Spitze der Sternbanner-
Republik ſtehen, allen republikaniſchen Gleichheitstiteln ihrer Geſchwiſter
zum Trotz. Dieſe Macht iſt freilich kein conſtitutionelles Vorrecht, aber ſie
iſt das natürliche Vorrecht des Reichthums, der Intelligenz, der politiſchen
Erfahrung, kurz, materielle und moraliſche Macht. So ſind jene
Staaten ein Triumvirat, das die Angelegenheiten der Republik nur
mit einem höflicher betonten: Roma locuta est *) entſcheidet, ſie ſind
ein politiſches Rund für ſich, das nöthigen Falls nicht dem Uebrigen
zu folgen braucht, wohl aber folgt das Uebrige ihm. Was fehlt da
noch zum Begriffe der Oberherrſchaft oder des Despotismus? Wie
groß iſt der Unterſchied, ob der Despot ein Einzelner oder eine Pro¬
vinz ſei, ob ſeine Autorität mit friedlicher Inſtinctmäßigkeit anerkannt,
oder unter härterer Nöthigung erduldet wird? Das Fehlende aber
kann, und was höchſt wahrſcheinlich iſt, es wird im Laufe der Zei¬
ten auch noch hinzutreten. Denn wenn die ſociale Revolution oder
der politiſche Zerfall, wovon wir geſprochen, unter einer Reihe von
Bürgerkriegen nun vor ſich gehen wird, ſo werden die Generäle dieſer
*) Rom hat geſprochen.
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Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/191>, abgerufen am 23.11.2024.
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