endlich mild: wie ein Sabbath unter den Wochentagen. Spuren der feinsten Schönheit ihres Geschlechts verklären noch die zarten, blassen Züge der Matrone. Aber sie führt ihr einstiges Selbst lebendig an der Seite in einem jungen Mädchen von etwa achtzehn Jahren, wel¬ ches seinerseits wieder ein Schwesterchen von fünf Jahren an der Hand führt. Beide Töchter sind das reinste Ebenbild der Mutter. Das ältere Mädchen hat braunes, schlichtgescheiteltes Haar, ein tiefes brau¬ nes Auge unter dämmerungsvollen Wimpern, ein edles Oval des Ge¬ sichts und in ihrer ganzen Erscheinung einen so ergreifenden Ernst, daß mir, so oft ich sie einherwandeln sah, immer dieselbe Vorstellung zu¬ rückkehrte: ich sähe ein Mädchen zur Confirmation gehen. Man kann die weibliche Modestie in keiner andern Personification denken. Ich sage absichtlich Modestie, und nicht Bescheidenheit: das Wort mit seinen zwei breiten Diphthongen klänge ganz unmalerisch für diesen Characterausdruck. Modestie muß es heißen.
Wie artistisch empfunden! rief Moorfeld mit der Freude des Ken¬ ners, sagen Sie noch, daß Ihnen ein Bild schwer wird, ohne geschicht¬ lichen Grund! Ein rein dichterischer Zug, eine Nüance voll Plastik!
Ich bin kein Dichter, sagte Benthal mit einer gewissen Genauigkeit der Definition, ich habe nicht die Imaginationskraft, zu schaffen, höchstens, das Geschaffene zu empfinden. Aber Moorfeld's Sympathie war in ihrem Kern getroffen, Benthal selbst hätte es nicht mehr än¬ dern können. In Kleindeutschland hatte ihn Moorfeld achten gelernt, wie ein Mann den Mann achtet, dieser Zug befriedigte das Besondere in ihm, das Eigene. Er drückte unwillkürlich Benthal's Arm brüder¬ licher an sich; dieser fuhr fort: Die Matrone verkürzte sich von Zeit zu Zeit die Langweile der Seefahrt mit Lectüre. Eines Tags sah ich sie mit einem alten Zeitungsblatt in der Hand an mir vorübergehen. Wie wurde mir, als ich nach dem Kopfe des Blattes schielend, eine liberale pfälzer Zeitung erkannte, an welcher ich unter dem bewegtesten Wechsel von Privat- und öffentlichen Geschicken ein Hauptmitarbeiter gewesen! Mein Blick mochte lebhafter, als er sollte, meinen Rapport mit diesem Stück Papier ausgedrückt haben, denn die Dame reichte mir es, zwar nicht als Neuigkeit, wie sie sich entschuldigte, aber solch kräftiges Stammholz halte sich lange, sagte sie, man schnitze sich jetzt erst mit gehöriger Andacht Reliquien daraus. Sie fügte dann zum
endlich mild: wie ein Sabbath unter den Wochentagen. Spuren der feinſten Schönheit ihres Geſchlechts verklären noch die zarten, blaſſen Züge der Matrone. Aber ſie führt ihr einſtiges Selbſt lebendig an der Seite in einem jungen Mädchen von etwa achtzehn Jahren, wel¬ ches ſeinerſeits wieder ein Schweſterchen von fünf Jahren an der Hand führt. Beide Töchter ſind das reinſte Ebenbild der Mutter. Das ältere Mädchen hat braunes, ſchlichtgeſcheiteltes Haar, ein tiefes brau¬ nes Auge unter dämmerungsvollen Wimpern, ein edles Oval des Ge¬ ſichts und in ihrer ganzen Erſcheinung einen ſo ergreifenden Ernſt, daß mir, ſo oft ich ſie einherwandeln ſah, immer dieſelbe Vorſtellung zu¬ rückkehrte: ich ſähe ein Mädchen zur Confirmation gehen. Man kann die weibliche Modeſtie in keiner andern Perſonification denken. Ich ſage abſichtlich Modeſtie, und nicht Beſcheidenheit: das Wort mit ſeinen zwei breiten Diphthongen klänge ganz unmaleriſch für dieſen Characterausdruck. Modeſtie muß es heißen.
Wie artiſtiſch empfunden! rief Moorfeld mit der Freude des Ken¬ ners, ſagen Sie noch, daß Ihnen ein Bild ſchwer wird, ohne geſchicht¬ lichen Grund! Ein rein dichteriſcher Zug, eine Nüance voll Plaſtik!
Ich bin kein Dichter, ſagte Benthal mit einer gewiſſen Genauigkeit der Definition, ich habe nicht die Imaginationskraft, zu ſchaffen, höchſtens, das Geſchaffene zu empfinden. Aber Moorfeld's Sympathie war in ihrem Kern getroffen, Benthal ſelbſt hätte es nicht mehr än¬ dern können. In Kleindeutſchland hatte ihn Moorfeld achten gelernt, wie ein Mann den Mann achtet, dieſer Zug befriedigte das Beſondere in ihm, das Eigene. Er drückte unwillkürlich Benthal's Arm brüder¬ licher an ſich; dieſer fuhr fort: Die Matrone verkürzte ſich von Zeit zu Zeit die Langweile der Seefahrt mit Lectüre. Eines Tags ſah ich ſie mit einem alten Zeitungsblatt in der Hand an mir vorübergehen. Wie wurde mir, als ich nach dem Kopfe des Blattes ſchielend, eine liberale pfälzer Zeitung erkannte, an welcher ich unter dem bewegteſten Wechſel von Privat- und öffentlichen Geſchicken ein Hauptmitarbeiter geweſen! Mein Blick mochte lebhafter, als er ſollte, meinen Rapport mit dieſem Stück Papier ausgedrückt haben, denn die Dame reichte mir es, zwar nicht als Neuigkeit, wie ſie ſich entſchuldigte, aber ſolch kräftiges Stammholz halte ſich lange, ſagte ſie, man ſchnitze ſich jetzt erſt mit gehöriger Andacht Reliquien daraus. Sie fügte dann zum
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endlich mild: wie ein Sabbath unter den Wochentagen. Spuren der
feinſten Schönheit ihres Geſchlechts verklären noch die zarten, blaſſen
Züge der Matrone. Aber ſie führt ihr einſtiges Selbſt lebendig an
der Seite in einem jungen Mädchen von etwa achtzehn Jahren, wel¬
ches ſeinerſeits wieder ein Schweſterchen von fünf Jahren an der Hand
führt. Beide Töchter ſind das reinſte Ebenbild der Mutter. Das
ältere Mädchen hat braunes, ſchlichtgeſcheiteltes Haar, ein tiefes brau¬
nes Auge unter dämmerungsvollen Wimpern, ein edles Oval des Ge¬
ſichts und in ihrer ganzen Erſcheinung einen ſo ergreifenden Ernſt, daß
mir, ſo oft ich ſie einherwandeln ſah, immer dieſelbe Vorſtellung zu¬
rückkehrte: ich ſähe ein Mädchen zur Confirmation gehen. Man kann
die weibliche Modeſtie in keiner andern Perſonification denken. Ich
ſage abſichtlich Modeſtie, und nicht Beſcheidenheit: das Wort mit
ſeinen zwei breiten Diphthongen klänge ganz unmaleriſch für dieſen
Characterausdruck. Modeſtie muß es heißen.
Wie artiſtiſch empfunden! rief Moorfeld mit der Freude des Ken¬
ners, ſagen Sie noch, daß Ihnen ein Bild ſchwer wird, ohne geſchicht¬
lichen Grund! Ein rein dichteriſcher Zug, eine Nüance voll Plaſtik!
Ich bin kein Dichter, ſagte Benthal mit einer gewiſſen Genauigkeit
der Definition, ich habe nicht die Imaginationskraft, zu ſchaffen,
höchſtens, das Geſchaffene zu empfinden. Aber Moorfeld's Sympathie
war in ihrem Kern getroffen, Benthal ſelbſt hätte es nicht mehr än¬
dern können. In Kleindeutſchland hatte ihn Moorfeld achten gelernt,
wie ein Mann den Mann achtet, dieſer Zug befriedigte das Beſondere
in ihm, das Eigene. Er drückte unwillkürlich Benthal's Arm brüder¬
licher an ſich; dieſer fuhr fort: Die Matrone verkürzte ſich von Zeit zu
Zeit die Langweile der Seefahrt mit Lectüre. Eines Tags ſah ich
ſie mit einem alten Zeitungsblatt in der Hand an mir vorübergehen.
Wie wurde mir, als ich nach dem Kopfe des Blattes ſchielend, eine
liberale pfälzer Zeitung erkannte, an welcher ich unter dem bewegteſten
Wechſel von Privat- und öffentlichen Geſchicken ein Hauptmitarbeiter
geweſen! Mein Blick mochte lebhafter, als er ſollte, meinen Rapport
mit dieſem Stück Papier ausgedrückt haben, denn die Dame reichte
mir es, zwar nicht als Neuigkeit, wie ſie ſich entſchuldigte, aber ſolch
kräftiges Stammholz halte ſich lange, ſagte ſie, man ſchnitze ſich jetzt
erſt mit gehöriger Andacht Reliquien daraus. Sie fügte dann zum
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Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/156>, abgerufen am 27.11.2024.
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