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Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855.

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Wagengerassel und Menschenverkehr aufhörte, die Musik störend zu
kreuzen, genoß er um so behaglicher.

So wurde der Zuhörer unversehens in eine Region verlockt, welche
nicht nur wenig befahren, sondern selbst wenig betreten schien. Mit
jeder Wendung, mit jedem Schritte nahm der Charakter der Einsam¬
keit überhand. Newyork zersplitterte sich plötzlich wie ein aufgelöster
Rosenkranz in alle Winde. Der Fremde stand so zu sagen im freien
Felde. Zwar ließ sich die gradlinige Anlage der Straßen auch hier
wie überall wahrnehmen, aber die lückenhafte Art, womit diese Linien
angebaut waren, gab dem ganzen Bezirke etwas Chaotisches trotz dem
mathematischen Grundrisse. Es war offenbar das jüngste Quartier
von Newyork. Die Ansiedlungen bestanden großentheils aus Gärt¬
nereien, wie sie an den Rändern der Städte zu lagern pflegen, bis
sie von dem nachrückenden Culturleben weit und weiter hinaus gedrängt
werden. Handel- und Gewerbsleben war hier noch wenig vorhanden,
die Grundstimmung des Ganzen eine vorherrschend ländliche. In
regellosen Entfernungen blinzelten Laternenpfähle, hie und da guckte
ein talg-helles Fenster in die Dämmerung -- zerstreute Lichtpunkte,
welche den Wüsten-Charakter dieses Bezirkes noch sinnlicher ausdrücken
halfen.

Der Chorgesang war inzwischen verstummt und die Sänger um
eine Straßenecke verschwunden. Moorfeld stand plötzlich allein auf
diesem unbekannten Boden. Jetzt erst wurde die Einsamkeit einsam
um ihn. Er mußte sich wie ein Erwachender besinnen, ob er wirklich
noch in Newyork sei. Ein Glied dieser ewig schlaflosen Stadt, das
mit einbrechender Dämmerung schon Nachtruhe hielt, -- es war so
gar nichts Amerikanisches in dieser Scene. Doch ja, der Charakter
des Unheimlichen fehlte ihr, die verdächtige Gauner- und Hochstappler-
Luft. Wenn in Europa's entlegenen Stadttheilen die Aermsten woh¬
nen, so wohnen hier, wußte er, höchstens die Neuesten. Es wehte
jener beklemmende Athem der Unsicherheit aus diesem Nachtbilde nicht,
in das er so unversehens als Staffage gestellt war. Er sah sich daher
getrost um einen Führer um, dem er es überlassen mochte, in Er¬
manglung einer Fahrgelegenheit, ihn auf den rechten Weg zurück zu
bringen. Zu diesem Ende that er einige Schritte vorwärts gegen ein
einzelnstehendes Haus mit einem Wirthsschilde, welches die Deutschen

Wagengeraſſel und Menſchenverkehr aufhörte, die Muſik ſtörend zu
kreuzen, genoß er um ſo behaglicher.

So wurde der Zuhörer unverſehens in eine Region verlockt, welche
nicht nur wenig befahren, ſondern ſelbſt wenig betreten ſchien. Mit
jeder Wendung, mit jedem Schritte nahm der Charakter der Einſam¬
keit überhand. Newyork zerſplitterte ſich plötzlich wie ein aufgelöster
Roſenkranz in alle Winde. Der Fremde ſtand ſo zu ſagen im freien
Felde. Zwar ließ ſich die gradlinige Anlage der Straßen auch hier
wie überall wahrnehmen, aber die lückenhafte Art, womit dieſe Linien
angebaut waren, gab dem ganzen Bezirke etwas Chaotiſches trotz dem
mathematiſchen Grundriſſe. Es war offenbar das jüngſte Quartier
von Newyork. Die Anſiedlungen beſtanden großentheils aus Gärt¬
nereien, wie ſie an den Rändern der Städte zu lagern pflegen, bis
ſie von dem nachrückenden Culturleben weit und weiter hinaus gedrängt
werden. Handel- und Gewerbsleben war hier noch wenig vorhanden,
die Grundſtimmung des Ganzen eine vorherrſchend ländliche. In
regelloſen Entfernungen blinzelten Laternenpfähle, hie und da guckte
ein talg-helles Fenſter in die Dämmerung — zerſtreute Lichtpunkte,
welche den Wüſten-Charakter dieſes Bezirkes noch ſinnlicher ausdrücken
halfen.

Der Chorgeſang war inzwiſchen verſtummt und die Sänger um
eine Straßenecke verſchwunden. Moorfeld ſtand plötzlich allein auf
dieſem unbekannten Boden. Jetzt erſt wurde die Einſamkeit einſam
um ihn. Er mußte ſich wie ein Erwachender beſinnen, ob er wirklich
noch in Newyork ſei. Ein Glied dieſer ewig ſchlafloſen Stadt, das
mit einbrechender Dämmerung ſchon Nachtruhe hielt, — es war ſo
gar nichts Amerikaniſches in dieſer Scene. Doch ja, der Charakter
des Unheimlichen fehlte ihr, die verdächtige Gauner- und Hochſtappler-
Luft. Wenn in Europa's entlegenen Stadttheilen die Aermſten woh¬
nen, ſo wohnen hier, wußte er, höchſtens die Neueſten. Es wehte
jener beklemmende Athem der Unſicherheit aus dieſem Nachtbilde nicht,
in das er ſo unverſehens als Staffage geſtellt war. Er ſah ſich daher
getroſt um einen Führer um, dem er es überlaſſen mochte, in Er¬
manglung einer Fahrgelegenheit, ihn auf den rechten Weg zurück zu
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[98/0116] Wagengeraſſel und Menſchenverkehr aufhörte, die Muſik ſtörend zu kreuzen, genoß er um ſo behaglicher. So wurde der Zuhörer unverſehens in eine Region verlockt, welche nicht nur wenig befahren, ſondern ſelbſt wenig betreten ſchien. Mit jeder Wendung, mit jedem Schritte nahm der Charakter der Einſam¬ keit überhand. Newyork zerſplitterte ſich plötzlich wie ein aufgelöster Roſenkranz in alle Winde. Der Fremde ſtand ſo zu ſagen im freien Felde. Zwar ließ ſich die gradlinige Anlage der Straßen auch hier wie überall wahrnehmen, aber die lückenhafte Art, womit dieſe Linien angebaut waren, gab dem ganzen Bezirke etwas Chaotiſches trotz dem mathematiſchen Grundriſſe. Es war offenbar das jüngſte Quartier von Newyork. Die Anſiedlungen beſtanden großentheils aus Gärt¬ nereien, wie ſie an den Rändern der Städte zu lagern pflegen, bis ſie von dem nachrückenden Culturleben weit und weiter hinaus gedrängt werden. Handel- und Gewerbsleben war hier noch wenig vorhanden, die Grundſtimmung des Ganzen eine vorherrſchend ländliche. In regelloſen Entfernungen blinzelten Laternenpfähle, hie und da guckte ein talg-helles Fenſter in die Dämmerung — zerſtreute Lichtpunkte, welche den Wüſten-Charakter dieſes Bezirkes noch ſinnlicher ausdrücken halfen. Der Chorgeſang war inzwiſchen verſtummt und die Sänger um eine Straßenecke verſchwunden. Moorfeld ſtand plötzlich allein auf dieſem unbekannten Boden. Jetzt erſt wurde die Einſamkeit einſam um ihn. Er mußte ſich wie ein Erwachender beſinnen, ob er wirklich noch in Newyork ſei. Ein Glied dieſer ewig ſchlafloſen Stadt, das mit einbrechender Dämmerung ſchon Nachtruhe hielt, — es war ſo gar nichts Amerikaniſches in dieſer Scene. Doch ja, der Charakter des Unheimlichen fehlte ihr, die verdächtige Gauner- und Hochſtappler- Luft. Wenn in Europa's entlegenen Stadttheilen die Aermſten woh¬ nen, ſo wohnen hier, wußte er, höchſtens die Neueſten. Es wehte jener beklemmende Athem der Unſicherheit aus dieſem Nachtbilde nicht, in das er ſo unverſehens als Staffage geſtellt war. Er ſah ſich daher getroſt um einen Führer um, dem er es überlaſſen mochte, in Er¬ manglung einer Fahrgelegenheit, ihn auf den rechten Weg zurück zu bringen. Zu dieſem Ende that er einige Schritte vorwärts gegen ein einzelnſtehendes Haus mit einem Wirthsſchilde, welches die Deutſchen

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Zitationshilfe: Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/116>, abgerufen am 24.11.2024.