Kruse, Laurids: Nordische Freundschaft. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–105. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Ich ließ ihn fliehen, denn er hatte in der Angst den Ring sogleich fallen lassen. Ohne diesen weiter anzusehen, fiel es mir im Augenblick ein, daß er der verlorene sei. Ich begab mich daher ohne Zögern in die Cajüte des Chefs. Sein Diener sagte mir aber, daß er sich so eben auf ein Viertelstündchen zur Ruhe gelegt. Ich, der ich gern die Freude haben wollte, ihn zu überraschen, verschwieg den Fund und eilte in mein Gemach, wo ich den Ring aufmerksam betrachtete. Stelle dir nun mein Erstaunen, mein Erschrecken vor, als ich ihn nur zu gut erkannte, obgleich ich ihn seit mehreren Jahren nicht gesehen. Jetzt wurden mir die Worte meiner guten Mutter klar; ein schwer drückendes Räthsel war mir gelöst: der Ring ist der ihrige gewesen. Wie? wie versteh' ich das? fragte Holger bestürzt und theilnehmend. Woldemar vertraute nun dem Freunde seine frühere Sorge wegen der Equipage, und wie die Mutter ihm jene unvermuthet benommen. Nun ist mir aber die Binde von den Augen gefallen, fügte er hinzu. Aus allen früheren Reichthümern meines Vaters hatte ihr das Schicksal nur den von ihm empfangenen kostbaren Verlobungsring gelassen. Sie würde lieber Alles dulden als sich von ihm trennen. In langen Jahren, unter vielen drückenden Sorgen, während meiner kränklichen, viele Opfer erheischenden Kindheit war es ihr gelungen, das theure Pfand des verschwundenen Glücks noch immer aufzubewahren; und nun aus Liebe zu Ich ließ ihn fliehen, denn er hatte in der Angst den Ring sogleich fallen lassen. Ohne diesen weiter anzusehen, fiel es mir im Augenblick ein, daß er der verlorene sei. Ich begab mich daher ohne Zögern in die Cajüte des Chefs. Sein Diener sagte mir aber, daß er sich so eben auf ein Viertelstündchen zur Ruhe gelegt. Ich, der ich gern die Freude haben wollte, ihn zu überraschen, verschwieg den Fund und eilte in mein Gemach, wo ich den Ring aufmerksam betrachtete. Stelle dir nun mein Erstaunen, mein Erschrecken vor, als ich ihn nur zu gut erkannte, obgleich ich ihn seit mehreren Jahren nicht gesehen. Jetzt wurden mir die Worte meiner guten Mutter klar; ein schwer drückendes Räthsel war mir gelöst: der Ring ist der ihrige gewesen. Wie? wie versteh' ich das? fragte Holger bestürzt und theilnehmend. Woldemar vertraute nun dem Freunde seine frühere Sorge wegen der Equipage, und wie die Mutter ihm jene unvermuthet benommen. Nun ist mir aber die Binde von den Augen gefallen, fügte er hinzu. Aus allen früheren Reichthümern meines Vaters hatte ihr das Schicksal nur den von ihm empfangenen kostbaren Verlobungsring gelassen. Sie würde lieber Alles dulden als sich von ihm trennen. In langen Jahren, unter vielen drückenden Sorgen, während meiner kränklichen, viele Opfer erheischenden Kindheit war es ihr gelungen, das theure Pfand des verschwundenen Glücks noch immer aufzubewahren; und nun aus Liebe zu <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0042"/> Ich ließ ihn fliehen, denn er hatte in der Angst den Ring sogleich fallen lassen. Ohne diesen weiter anzusehen, fiel es mir im Augenblick ein, daß er der verlorene sei. Ich begab mich daher ohne Zögern in die Cajüte des Chefs. Sein Diener sagte mir aber, daß er sich so eben auf ein Viertelstündchen zur Ruhe gelegt. Ich, der ich gern die Freude haben wollte, ihn zu überraschen, verschwieg den Fund und eilte in mein Gemach, wo ich den Ring aufmerksam betrachtete. Stelle dir nun mein Erstaunen, mein Erschrecken vor, als ich ihn nur zu gut erkannte, obgleich ich ihn seit mehreren Jahren nicht gesehen. Jetzt wurden mir die Worte meiner guten Mutter klar; ein schwer drückendes Räthsel war mir gelöst: der Ring ist der ihrige gewesen.</p><lb/> <p>Wie? wie versteh' ich das? fragte Holger bestürzt und theilnehmend.</p><lb/> <p>Woldemar vertraute nun dem Freunde seine frühere Sorge wegen der Equipage, und wie die Mutter ihm jene unvermuthet benommen. Nun ist mir aber die Binde von den Augen gefallen, fügte er hinzu. Aus allen früheren Reichthümern meines Vaters hatte ihr das Schicksal nur den von ihm empfangenen kostbaren Verlobungsring gelassen. Sie würde lieber Alles dulden als sich von ihm trennen. In langen Jahren, unter vielen drückenden Sorgen, während meiner kränklichen, viele Opfer erheischenden Kindheit war es ihr gelungen, das theure Pfand des verschwundenen Glücks noch immer aufzubewahren; und nun aus Liebe zu<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0042]
Ich ließ ihn fliehen, denn er hatte in der Angst den Ring sogleich fallen lassen. Ohne diesen weiter anzusehen, fiel es mir im Augenblick ein, daß er der verlorene sei. Ich begab mich daher ohne Zögern in die Cajüte des Chefs. Sein Diener sagte mir aber, daß er sich so eben auf ein Viertelstündchen zur Ruhe gelegt. Ich, der ich gern die Freude haben wollte, ihn zu überraschen, verschwieg den Fund und eilte in mein Gemach, wo ich den Ring aufmerksam betrachtete. Stelle dir nun mein Erstaunen, mein Erschrecken vor, als ich ihn nur zu gut erkannte, obgleich ich ihn seit mehreren Jahren nicht gesehen. Jetzt wurden mir die Worte meiner guten Mutter klar; ein schwer drückendes Räthsel war mir gelöst: der Ring ist der ihrige gewesen.
Wie? wie versteh' ich das? fragte Holger bestürzt und theilnehmend.
Woldemar vertraute nun dem Freunde seine frühere Sorge wegen der Equipage, und wie die Mutter ihm jene unvermuthet benommen. Nun ist mir aber die Binde von den Augen gefallen, fügte er hinzu. Aus allen früheren Reichthümern meines Vaters hatte ihr das Schicksal nur den von ihm empfangenen kostbaren Verlobungsring gelassen. Sie würde lieber Alles dulden als sich von ihm trennen. In langen Jahren, unter vielen drückenden Sorgen, während meiner kränklichen, viele Opfer erheischenden Kindheit war es ihr gelungen, das theure Pfand des verschwundenen Glücks noch immer aufzubewahren; und nun aus Liebe zu
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Zitationshilfe: | Kruse, Laurids: Nordische Freundschaft. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–105. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kruse_freundschaft_1910/42>, abgerufen am 16.02.2025. |