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Krukenberg, Elsbeth: Die Frauenbewegung, ihre Ziele und ihre Bedeutung. Tübingen, 1905.

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unsere Beziehungen zum ganzen Volk, zur Bürgerschaft; uns,
die wir in einem engsten Kreis gelebt hatten. Erst durch
jene Erkenntnis fingen wir an, als Glieder der Gesellschaft
zu leben, uns als Bürgerinnen zu fühlen. Das mußte uns
zu einer anderen Wertung des Lebens und seines
Jnhalts führen
.

Das wissen wir unsern Lehrern Dank.

Dann kam die praktische Arbeit. Welchem Gebiet sich
auch die Einzelne zuwandte, welche besonderen Erfahrungen
sie in der Armenpflege, in der Kinderfürsorge, in der Blinden-
pflege machte, so trafen sich doch alle Helferinnen in einem
Punkt: die Wirkung der praktischen Arbeit auf unser Em-
pfinden, Fühlen und Denken war bei allen Helferinnen die-
selbe. Wohl keiner, die aus sorgloser Umgebung nun in die
Not des Lebens hineinsah, ist das Gefühl ohnmächtiger Ver-
zweiflung, das Gefühl der Hilflosigkeit angesichts des Massen-
elends, erspart geblieben. Als wir zuerst die hoffnungslose
Armut kennen lernten, als wir beobachten mußten, wie die
Frau der Arbeiterklassen sich für einen Hungerlohn zu Schan-
den arbeitet, um ihre Kinder nicht geradezu verhungern zu lassen,
und als wir schließlich dem Laster und dem Verbrechen ins
Antlitz sahen, da mußte uns die Hoffnungslosigkeit überwäl-
tigen und wir mußten daran verzweifeln, helfen und bessern
zu können. - Wer hat nicht in solcher Zeit geglaubt, seine
Pflicht darin zu finden, daß er sich alles dessen entäußert, was
bis dahin das Leben ihm geschmückt hatte? Selbst die ästhe-
tische Bildung, die früher unser einziger Lebensinhalt gewesen
war, wurde verachtet und unterschätzt; denn wir wußten nicht,
daß auch Bildung eine Quelle sein kann, aus der man immer
wieder Kraft und Opfermut für die Forderungen des Tages
schöpft. Dieser Empfindung tiefster Depression ist bei vielen

unsere Beziehungen zum ganzen Volk, zur Bürgerschaft; uns,
die wir in einem engsten Kreis gelebt hatten. Erst durch
jene Erkenntnis fingen wir an, als Glieder der Gesellschaft
zu leben, uns als Bürgerinnen zu fühlen. Das mußte uns
zu einer anderen Wertung des Lebens und seines
Jnhalts führen
.

Das wissen wir unsern Lehrern Dank.

Dann kam die praktische Arbeit. Welchem Gebiet sich
auch die Einzelne zuwandte, welche besonderen Erfahrungen
sie in der Armenpflege, in der Kinderfürsorge, in der Blinden-
pflege machte, so trafen sich doch alle Helferinnen in einem
Punkt: die Wirkung der praktischen Arbeit auf unser Em-
pfinden, Fühlen und Denken war bei allen Helferinnen die-
selbe. Wohl keiner, die aus sorgloser Umgebung nun in die
Not des Lebens hineinsah, ist das Gefühl ohnmächtiger Ver-
zweiflung, das Gefühl der Hilflosigkeit angesichts des Massen-
elends, erspart geblieben. Als wir zuerst die hoffnungslose
Armut kennen lernten, als wir beobachten mußten, wie die
Frau der Arbeiterklassen sich für einen Hungerlohn zu Schan-
den arbeitet, um ihre Kinder nicht geradezu verhungern zu lassen,
und als wir schließlich dem Laster und dem Verbrechen ins
Antlitz sahen, da mußte uns die Hoffnungslosigkeit überwäl-
tigen und wir mußten daran verzweifeln, helfen und bessern
zu können. – Wer hat nicht in solcher Zeit geglaubt, seine
Pflicht darin zu finden, daß er sich alles dessen entäußert, was
bis dahin das Leben ihm geschmückt hatte? Selbst die ästhe-
tische Bildung, die früher unser einziger Lebensinhalt gewesen
war, wurde verachtet und unterschätzt; denn wir wußten nicht,
daß auch Bildung eine Quelle sein kann, aus der man immer
wieder Kraft und Opfermut für die Forderungen des Tages
schöpft. Dieser Empfindung tiefster Depression ist bei vielen

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[138/0148] unsere Beziehungen zum ganzen Volk, zur Bürgerschaft; uns, die wir in einem engsten Kreis gelebt hatten. Erst durch jene Erkenntnis fingen wir an, als Glieder der Gesellschaft zu leben, uns als Bürgerinnen zu fühlen. Das mußte uns zu einer anderen Wertung des Lebens und seines Jnhalts führen. Das wissen wir unsern Lehrern Dank. Dann kam die praktische Arbeit. Welchem Gebiet sich auch die Einzelne zuwandte, welche besonderen Erfahrungen sie in der Armenpflege, in der Kinderfürsorge, in der Blinden- pflege machte, so trafen sich doch alle Helferinnen in einem Punkt: die Wirkung der praktischen Arbeit auf unser Em- pfinden, Fühlen und Denken war bei allen Helferinnen die- selbe. Wohl keiner, die aus sorgloser Umgebung nun in die Not des Lebens hineinsah, ist das Gefühl ohnmächtiger Ver- zweiflung, das Gefühl der Hilflosigkeit angesichts des Massen- elends, erspart geblieben. Als wir zuerst die hoffnungslose Armut kennen lernten, als wir beobachten mußten, wie die Frau der Arbeiterklassen sich für einen Hungerlohn zu Schan- den arbeitet, um ihre Kinder nicht geradezu verhungern zu lassen, und als wir schließlich dem Laster und dem Verbrechen ins Antlitz sahen, da mußte uns die Hoffnungslosigkeit überwäl- tigen und wir mußten daran verzweifeln, helfen und bessern zu können. – Wer hat nicht in solcher Zeit geglaubt, seine Pflicht darin zu finden, daß er sich alles dessen entäußert, was bis dahin das Leben ihm geschmückt hatte? Selbst die ästhe- tische Bildung, die früher unser einziger Lebensinhalt gewesen war, wurde verachtet und unterschätzt; denn wir wußten nicht, daß auch Bildung eine Quelle sein kann, aus der man immer wieder Kraft und Opfermut für die Forderungen des Tages schöpft. Dieser Empfindung tiefster Depression ist bei vielen

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Zitationshilfe: Krukenberg, Elsbeth: Die Frauenbewegung, ihre Ziele und ihre Bedeutung. Tübingen, 1905, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/krukenberg_frauenbewegung_1905/148>, abgerufen am 22.11.2024.