Mit jeder Strophe verdoppelten sich die Sänger und die Erde schien zu erzittern unter den Tritten der Massen, die mit schwerem Taktschritt dem Ausgange zuströmten, als ginge es zum Kampfplatz.
An der geöffneten Thür staute der dunkle Strom sich. Ein Trupp fremder Arbeiter war soeben im Flur angelangt und brachte die Nachricht vom Wahlsiege. Ein donnerndes Lebehoch auf den neuen Abgeordneten durchbrach den Gesang und setzte sich bis auf Hof und Straße fort. Zahlreiche Schutzleute erschienen wie aus der Erde gewachsen; Rufe zur Ordnung ertönten, Gelächter war die Antwort; und erst all¬ mälig wie der verhallende Donner eines schweren Wetters legte sich die Aufregung der erhitzten Menge.
Timpe stand noch immer wie versteinert auf dem Podium. Der Vorsitzende redete auf ihn ein, machte ihm Vorwürfe; er hörte nicht. Dann richtete der Polizeilieutenant einige Fragen an ihn; er beantwortete sie mechanisch. Die Leute um ihn herum verließen ihn, aber noch immer lehnte er am Tische. Gefühllos wie ein Nachtwandler stieg er die Stufen hinab. Da sah er seinen Sohn, wie er zögernd mit seinem Begleiter stehen blieb, aus ihn blickte, dann aber die Wand entlang der Thür zuschritt. Den Meister packte ein Schwindel. In seinem Hirn begann es zu kreisen, die Menschen standen auf den Köpfen, die Lichter führten einen tollen Tanz auf und zuletzt drehte der ganze Saal sich um ihn herum. Er schloß die Augen . . .
Er hielt plötzlich seinen Sohn an der Kehle und zerrte ihn nieder. Die Kräfte eines Riesen schienen über ihn ge¬ kommen zu sein. Immer fester schlossen die Hände sich, immer bleicher und willenloser wurde sein Opfer. "Gieb mir meinen
Mit jeder Strophe verdoppelten ſich die Sänger und die Erde ſchien zu erzittern unter den Tritten der Maſſen, die mit ſchwerem Taktſchritt dem Ausgange zuſtrömten, als ginge es zum Kampfplatz.
An der geöffneten Thür ſtaute der dunkle Strom ſich. Ein Trupp fremder Arbeiter war ſoeben im Flur angelangt und brachte die Nachricht vom Wahlſiege. Ein donnerndes Lebehoch auf den neuen Abgeordneten durchbrach den Geſang und ſetzte ſich bis auf Hof und Straße fort. Zahlreiche Schutzleute erſchienen wie aus der Erde gewachſen; Rufe zur Ordnung ertönten, Gelächter war die Antwort; und erſt all¬ mälig wie der verhallende Donner eines ſchweren Wetters legte ſich die Aufregung der erhitzten Menge.
Timpe ſtand noch immer wie verſteinert auf dem Podium. Der Vorſitzende redete auf ihn ein, machte ihm Vorwürfe; er hörte nicht. Dann richtete der Polizeilieutenant einige Fragen an ihn; er beantwortete ſie mechaniſch. Die Leute um ihn herum verließen ihn, aber noch immer lehnte er am Tiſche. Gefühllos wie ein Nachtwandler ſtieg er die Stufen hinab. Da ſah er ſeinen Sohn, wie er zögernd mit ſeinem Begleiter ſtehen blieb, aus ihn blickte, dann aber die Wand entlang der Thür zuſchritt. Den Meiſter packte ein Schwindel. In ſeinem Hirn begann es zu kreiſen, die Menſchen ſtanden auf den Köpfen, die Lichter führten einen tollen Tanz auf und zuletzt drehte der ganze Saal ſich um ihn herum. Er ſchloß die Augen . . .
Er hielt plötzlich ſeinen Sohn an der Kehle und zerrte ihn nieder. Die Kräfte eines Rieſen ſchienen über ihn ge¬ kommen zu ſein. Immer feſter ſchloſſen die Hände ſich, immer bleicher und willenloſer wurde ſein Opfer. „Gieb mir meinen
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Mit jeder Strophe verdoppelten ſich die Sänger und
die Erde ſchien zu erzittern unter den Tritten der Maſſen,
die mit ſchwerem Taktſchritt dem Ausgange zuſtrömten, als
ginge es zum Kampfplatz.
An der geöffneten Thür ſtaute der dunkle Strom ſich.
Ein Trupp fremder Arbeiter war ſoeben im Flur angelangt
und brachte die Nachricht vom Wahlſiege. Ein donnerndes
Lebehoch auf den neuen Abgeordneten durchbrach den Geſang
und ſetzte ſich bis auf Hof und Straße fort. Zahlreiche
Schutzleute erſchienen wie aus der Erde gewachſen; Rufe zur
Ordnung ertönten, Gelächter war die Antwort; und erſt all¬
mälig wie der verhallende Donner eines ſchweren Wetters
legte ſich die Aufregung der erhitzten Menge.
Timpe ſtand noch immer wie verſteinert auf dem Podium.
Der Vorſitzende redete auf ihn ein, machte ihm Vorwürfe;
er hörte nicht. Dann richtete der Polizeilieutenant einige
Fragen an ihn; er beantwortete ſie mechaniſch. Die Leute
um ihn herum verließen ihn, aber noch immer lehnte er am
Tiſche. Gefühllos wie ein Nachtwandler ſtieg er die Stufen
hinab. Da ſah er ſeinen Sohn, wie er zögernd mit ſeinem
Begleiter ſtehen blieb, aus ihn blickte, dann aber die Wand
entlang der Thür zuſchritt. Den Meiſter packte ein
Schwindel. In ſeinem Hirn begann es zu kreiſen, die
Menſchen ſtanden auf den Köpfen, die Lichter führten einen
tollen Tanz auf und zuletzt drehte der ganze Saal ſich um
ihn herum. Er ſchloß die Augen . . .
Er hielt plötzlich ſeinen Sohn an der Kehle und zerrte
ihn nieder. Die Kräfte eines Rieſen ſchienen über ihn ge¬
kommen zu ſein. Immer feſter ſchloſſen die Hände ſich, immer
bleicher und willenloſer wurde ſein Opfer. „Gieb mir meinen
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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 299. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/311>, abgerufen am 22.11.2024.
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