Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Altgeselle lächelte und betrachtete ihn von oben bis
unten mit einem Blick, den nur Timpe verstand.

"Zögern Sie auch jetzt noch?"

Der Meister schwankte einen Augenblick; dann sagte er
mit fester Stimme: "Nein!" beschritt den Thorweg und stieg
rechts die Stufen zum Lokal empor.

Nach wenigen Minuten kehrte er zurück.

Er wollte sich entfernen, aber Thomas Beyer hielt ihn
fest. Ob er schon wisse, daß dort drüben um die Ecke in
Scheller's Salon um sieben Uhr eine Versammlung abge¬
halten werde? Strikende Arbeiter der Urban'schen Fabrik
träfen sich dort.

"Meister, Sie gehören jetzt zu uns, Sie müssen mit¬
kommen."

Seit der Minute, wo Timpe mit gesenktem Blick die
Hand nach der Wahlurne ausgestreckt hatte, um in ihre Tiefe
jenen winzigen Fetzen Papier zu versenken, auf dem seine
neue Ueberzeugung geschrieben stand, war völlige Willenlosig¬
keit über ihn gekommen. Es war der Zweifel an der Ge¬
rechtigkeit seiner Handlung, der sofort mit der That in ihm
aufgestiegen war. Wie eigenthümlich hatten ihn die Herren
am Tische betrachtet, wie starr waren ihre Augen auf seine
Hand gerichtet, als wollten sie bereits aus der Farbe des
Papiers seine Gesinnung erkennen. Ja, es war ihm sogar,
als hätten ein korpulenter Sardellenhändler und ein dürrer
Kanzleirath, die als Beisitzer fungirten und ihn genau
kannten, sich erstaunte Blicke zugeworfen, aus denen zweifels¬
ohne die Worte zu lesen waren: Haben Sie gesehen? Timpe
wählt einen Sozialdemokraten.

"Gut, wir gehen," erwiderte er dem Altgesellen.

Der Altgeſelle lächelte und betrachtete ihn von oben bis
unten mit einem Blick, den nur Timpe verſtand.

„Zögern Sie auch jetzt noch?“

Der Meiſter ſchwankte einen Augenblick; dann ſagte er
mit feſter Stimme: „Nein!“ beſchritt den Thorweg und ſtieg
rechts die Stufen zum Lokal empor.

Nach wenigen Minuten kehrte er zurück.

Er wollte ſich entfernen, aber Thomas Beyer hielt ihn
feſt. Ob er ſchon wiſſe, daß dort drüben um die Ecke in
Scheller's Salon um ſieben Uhr eine Verſammlung abge¬
halten werde? Strikende Arbeiter der Urban'ſchen Fabrik
träfen ſich dort.

„Meiſter, Sie gehören jetzt zu uns, Sie müſſen mit¬
kommen.“

Seit der Minute, wo Timpe mit geſenktem Blick die
Hand nach der Wahlurne ausgeſtreckt hatte, um in ihre Tiefe
jenen winzigen Fetzen Papier zu verſenken, auf dem ſeine
neue Ueberzeugung geſchrieben ſtand, war völlige Willenloſig¬
keit über ihn gekommen. Es war der Zweifel an der Ge¬
rechtigkeit ſeiner Handlung, der ſofort mit der That in ihm
aufgeſtiegen war. Wie eigenthümlich hatten ihn die Herren
am Tiſche betrachtet, wie ſtarr waren ihre Augen auf ſeine
Hand gerichtet, als wollten ſie bereits aus der Farbe des
Papiers ſeine Geſinnung erkennen. Ja, es war ihm ſogar,
als hätten ein korpulenter Sardellenhändler und ein dürrer
Kanzleirath, die als Beiſitzer fungirten und ihn genau
kannten, ſich erſtaunte Blicke zugeworfen, aus denen zweifels¬
ohne die Worte zu leſen waren: Haben Sie geſehen? Timpe
wählt einen Sozialdemokraten.

„Gut, wir gehen,“ erwiderte er dem Altgeſellen.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0294" n="282"/>
        <p>Der Altge&#x017F;elle lächelte und betrachtete ihn von oben bis<lb/>
unten mit einem Blick, den nur Timpe ver&#x017F;tand.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Zögern Sie auch <hi rendition="#g">jetzt</hi> noch?&#x201C;</p><lb/>
        <p>Der Mei&#x017F;ter &#x017F;chwankte einen Augenblick; dann &#x017F;agte er<lb/>
mit fe&#x017F;ter Stimme: &#x201E;Nein!&#x201C; be&#x017F;chritt den Thorweg und &#x017F;tieg<lb/>
rechts die Stufen zum Lokal empor.</p><lb/>
        <p>Nach wenigen Minuten kehrte er zurück.</p><lb/>
        <p>Er wollte &#x017F;ich entfernen, aber Thomas Beyer hielt ihn<lb/>
fe&#x017F;t. Ob er &#x017F;chon wi&#x017F;&#x017F;e, daß dort drüben um die Ecke in<lb/>
Scheller's Salon um &#x017F;ieben Uhr eine Ver&#x017F;ammlung abge¬<lb/>
halten werde? Strikende Arbeiter der Urban'&#x017F;chen Fabrik<lb/>
träfen &#x017F;ich dort.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Mei&#x017F;ter, Sie gehören jetzt zu uns, Sie mü&#x017F;&#x017F;en mit¬<lb/>
kommen.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Seit der Minute, wo Timpe mit ge&#x017F;enktem Blick die<lb/>
Hand nach der Wahlurne ausge&#x017F;treckt hatte, um in ihre Tiefe<lb/>
jenen winzigen Fetzen Papier zu ver&#x017F;enken, auf dem &#x017F;eine<lb/>
neue Ueberzeugung ge&#x017F;chrieben &#x017F;tand, war völlige Willenlo&#x017F;ig¬<lb/>
keit über ihn gekommen. Es war der Zweifel an der Ge¬<lb/>
rechtigkeit &#x017F;einer Handlung, der &#x017F;ofort mit der That in ihm<lb/>
aufge&#x017F;tiegen war. Wie eigenthümlich hatten ihn die Herren<lb/>
am Ti&#x017F;che betrachtet, wie &#x017F;tarr waren ihre Augen auf &#x017F;eine<lb/>
Hand gerichtet, als wollten &#x017F;ie bereits aus der Farbe des<lb/>
Papiers &#x017F;eine Ge&#x017F;innung erkennen. Ja, es war ihm &#x017F;ogar,<lb/>
als hätten ein korpulenter Sardellenhändler und ein dürrer<lb/>
Kanzleirath, die als Bei&#x017F;itzer fungirten und ihn genau<lb/>
kannten, &#x017F;ich er&#x017F;taunte Blicke zugeworfen, aus denen zweifels¬<lb/>
ohne die Worte zu le&#x017F;en waren: Haben Sie ge&#x017F;ehen? Timpe<lb/>
wählt einen Sozialdemokraten.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Gut, wir gehen,&#x201C; erwiderte er dem Altge&#x017F;ellen.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[282/0294] Der Altgeſelle lächelte und betrachtete ihn von oben bis unten mit einem Blick, den nur Timpe verſtand. „Zögern Sie auch jetzt noch?“ Der Meiſter ſchwankte einen Augenblick; dann ſagte er mit feſter Stimme: „Nein!“ beſchritt den Thorweg und ſtieg rechts die Stufen zum Lokal empor. Nach wenigen Minuten kehrte er zurück. Er wollte ſich entfernen, aber Thomas Beyer hielt ihn feſt. Ob er ſchon wiſſe, daß dort drüben um die Ecke in Scheller's Salon um ſieben Uhr eine Verſammlung abge¬ halten werde? Strikende Arbeiter der Urban'ſchen Fabrik träfen ſich dort. „Meiſter, Sie gehören jetzt zu uns, Sie müſſen mit¬ kommen.“ Seit der Minute, wo Timpe mit geſenktem Blick die Hand nach der Wahlurne ausgeſtreckt hatte, um in ihre Tiefe jenen winzigen Fetzen Papier zu verſenken, auf dem ſeine neue Ueberzeugung geſchrieben ſtand, war völlige Willenloſig¬ keit über ihn gekommen. Es war der Zweifel an der Ge¬ rechtigkeit ſeiner Handlung, der ſofort mit der That in ihm aufgeſtiegen war. Wie eigenthümlich hatten ihn die Herren am Tiſche betrachtet, wie ſtarr waren ihre Augen auf ſeine Hand gerichtet, als wollten ſie bereits aus der Farbe des Papiers ſeine Geſinnung erkennen. Ja, es war ihm ſogar, als hätten ein korpulenter Sardellenhändler und ein dürrer Kanzleirath, die als Beiſitzer fungirten und ihn genau kannten, ſich erſtaunte Blicke zugeworfen, aus denen zweifels¬ ohne die Worte zu leſen waren: Haben Sie geſehen? Timpe wählt einen Sozialdemokraten. „Gut, wir gehen,“ erwiderte er dem Altgeſellen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/294
Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 282. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/294>, abgerufen am 22.11.2024.