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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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mein gnädigstes Fräulein. Ich sage, fehlgegangen! Alle
Hochachtung vor Ihnen -- Sie sind eine liebenswürdige Dame,
gewiß, das sind Sie! Auch meinen schönsten Dank für Ihre
Freundlichkeit! Aber es ist zu allen Zeiten immer dasselbe
gewesen: Ein Vater kann nur von einem Sohne zu dessen
Hochzeit eingeladen werden, wenn er einen solchen besitzt.
Aber ich, ich habe keinen! Bestellen Sie das gefälligst
Ihrer gnädigen Frau Mama. Verstehen Sie auch recht:
Ich habe keinen Sohn. ... Und wenn er selbst hier vor
meinen Knieen läge und mit tausend Schwüren es beeidete,
daß ich sein Vater sei, so sage ich ihm in's Gesicht hinein:
Du lügst! Denn das Blatt, das vom Baume losgetrennt ist,
hat keine Gemeinschaft mehr mit dem Stamm. So wahr ich
Johannes Timpe heiße und in Ehren grau geworden bin, so
ist's und so soll's bleiben, so lange mir der liebe Gott das
Leben schenkt."

Er zitterte am ganzen Leibe, das Antlitz war vor Er¬
regung fahl geworden, und die rechte Hand hatte sich geballt.
Karoline war auf ihn zugetreten, um ihn ernstlich zu be¬
schwichtigen. So hatte sie ihn noch nie gesehen.

"Vater, Du gehst zu weit. Er trägt unsern Namen ..."

Er dachte an den Diebstahl und wollte sich hinreißen
lassen, das Wort "ehrlos" zu gebrauchen; aber er bezwang sich.
Das fürchterliche Geheimniß, um das er allein wußte, sollte
mit ihm zu Grabe getragen werden. So sagte er denn mit
erzwungener Ruhe:

"Das ist nicht zu leugnen; aber er trägt den Namen
seines Vaters, nicht seinen eigenen. Und so wenig eine
Heerde von Hammeln dafür kann, wenn ein räudiger in ihr
sich befindet, so wenig kann man es einer Familie zur

mein gnädigſtes Fräulein. Ich ſage, fehlgegangen! Alle
Hochachtung vor Ihnen — Sie ſind eine liebenswürdige Dame,
gewiß, das ſind Sie! Auch meinen ſchönſten Dank für Ihre
Freundlichkeit! Aber es iſt zu allen Zeiten immer daſſelbe
geweſen: Ein Vater kann nur von einem Sohne zu deſſen
Hochzeit eingeladen werden, wenn er einen ſolchen beſitzt.
Aber ich, ich habe keinen! Beſtellen Sie das gefälligſt
Ihrer gnädigen Frau Mama. Verſtehen Sie auch recht:
Ich habe keinen Sohn. ... Und wenn er ſelbſt hier vor
meinen Knieen läge und mit tauſend Schwüren es beeidete,
daß ich ſein Vater ſei, ſo ſage ich ihm in's Geſicht hinein:
Du lügſt! Denn das Blatt, das vom Baume losgetrennt iſt,
hat keine Gemeinſchaft mehr mit dem Stamm. So wahr ich
Johannes Timpe heiße und in Ehren grau geworden bin, ſo
iſt's und ſo ſoll's bleiben, ſo lange mir der liebe Gott das
Leben ſchenkt.“

Er zitterte am ganzen Leibe, das Antlitz war vor Er¬
regung fahl geworden, und die rechte Hand hatte ſich geballt.
Karoline war auf ihn zugetreten, um ihn ernſtlich zu be¬
ſchwichtigen. So hatte ſie ihn noch nie geſehen.

„Vater, Du gehſt zu weit. Er trägt unſern Namen ...“

Er dachte an den Diebſtahl und wollte ſich hinreißen
laſſen, das Wort „ehrlos“ zu gebrauchen; aber er bezwang ſich.
Das fürchterliche Geheimniß, um das er allein wußte, ſollte
mit ihm zu Grabe getragen werden. So ſagte er denn mit
erzwungener Ruhe:

„Das iſt nicht zu leugnen; aber er trägt den Namen
ſeines Vaters, nicht ſeinen eigenen. Und ſo wenig eine
Heerde von Hammeln dafür kann, wenn ein räudiger in ihr
ſich befindet, ſo wenig kann man es einer Familie zur

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[215/0227] mein gnädigſtes Fräulein. Ich ſage, fehlgegangen! Alle Hochachtung vor Ihnen — Sie ſind eine liebenswürdige Dame, gewiß, das ſind Sie! Auch meinen ſchönſten Dank für Ihre Freundlichkeit! Aber es iſt zu allen Zeiten immer daſſelbe geweſen: Ein Vater kann nur von einem Sohne zu deſſen Hochzeit eingeladen werden, wenn er einen ſolchen beſitzt. Aber ich, ich habe keinen! Beſtellen Sie das gefälligſt Ihrer gnädigen Frau Mama. Verſtehen Sie auch recht: Ich habe keinen Sohn. ... Und wenn er ſelbſt hier vor meinen Knieen läge und mit tauſend Schwüren es beeidete, daß ich ſein Vater ſei, ſo ſage ich ihm in's Geſicht hinein: Du lügſt! Denn das Blatt, das vom Baume losgetrennt iſt, hat keine Gemeinſchaft mehr mit dem Stamm. So wahr ich Johannes Timpe heiße und in Ehren grau geworden bin, ſo iſt's und ſo ſoll's bleiben, ſo lange mir der liebe Gott das Leben ſchenkt.“ Er zitterte am ganzen Leibe, das Antlitz war vor Er¬ regung fahl geworden, und die rechte Hand hatte ſich geballt. Karoline war auf ihn zugetreten, um ihn ernſtlich zu be¬ ſchwichtigen. So hatte ſie ihn noch nie geſehen. „Vater, Du gehſt zu weit. Er trägt unſern Namen ...“ Er dachte an den Diebſtahl und wollte ſich hinreißen laſſen, das Wort „ehrlos“ zu gebrauchen; aber er bezwang ſich. Das fürchterliche Geheimniß, um das er allein wußte, ſollte mit ihm zu Grabe getragen werden. So ſagte er denn mit erzwungener Ruhe: „Das iſt nicht zu leugnen; aber er trägt den Namen ſeines Vaters, nicht ſeinen eigenen. Und ſo wenig eine Heerde von Hammeln dafür kann, wenn ein räudiger in ihr ſich befindet, ſo wenig kann man es einer Familie zur

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/227>, abgerufen am 25.11.2024.