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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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Sein eigener Sohn sollte ihn bestohlen haben, um sich
den Dank des Todfeindes zu verdienen? Der Gedanke war
zu fürchterlich, als daß er es wagen durfte, ihn laut zu
äußern, wäre es auch nur in einem Selbstgespräche ... Als
er aber endlich das Haupt erhob, dessen Haare Sorge und
Kummer der letzten Zeit früh gebleicht hatten, und er
hinausblickte auf das rothe Gemäuer der Viadukte, das das
Zimmer halb verdunkelte, sah er verändert aus, als hätten
Minuten Furchen in sein Antlitz gezeichnet. Er schüttelte den
Kopf, als wollte er mit Gewalt das nicht begreifen, was für
ihn schreckliche Wahrheit war. Ein langer Seufzer kam über
seine Lippen, in dem Alles lag: die Erinnerung an einen
schlanken Knaben, den er auf den Knien geschaukelt hatte, die
unbeschreiblichen Hoffnungen und Wünsche, welche sich an seine
Zukunft geknüpft hatten, der Gedanke an viele Jahre harter
Arbeit, an Liebe und Pflege um den Einzigen, und an einen
betrogenen Vater ...

Plötzlich schreckte er zusammen, wie jäh aus einem Traume
erweckt: die Meisterin stand neben ihm und hatte seine Schul¬
tern berührt.

"Vater, Dich drücken wieder schwere Sorgen ... Und
wie Du aussiehst, mein Gott ..."

"Wie immer, Mutter."

Er fand ein Lächeln und zog die Alte sanft an sich. Und
als sie mit ihren Lippen seine Stirn berührt hatte, ging es
ihm wie ein Frühlingswehen durch die Seele, sodaß er sein
Weib herzhaft küßte. Sie betraten dann die gute Stube.
Sein Blick fiel auf das Bild seines Sohnes. Franz war
dargestellt als ein Jüngling von 16 Jahren. Meister Timpe

Sein eigener Sohn ſollte ihn beſtohlen haben, um ſich
den Dank des Todfeindes zu verdienen? Der Gedanke war
zu fürchterlich, als daß er es wagen durfte, ihn laut zu
äußern, wäre es auch nur in einem Selbſtgeſpräche ... Als
er aber endlich das Haupt erhob, deſſen Haare Sorge und
Kummer der letzten Zeit früh gebleicht hatten, und er
hinausblickte auf das rothe Gemäuer der Viadukte, das das
Zimmer halb verdunkelte, ſah er verändert aus, als hätten
Minuten Furchen in ſein Antlitz gezeichnet. Er ſchüttelte den
Kopf, als wollte er mit Gewalt das nicht begreifen, was für
ihn ſchreckliche Wahrheit war. Ein langer Seufzer kam über
ſeine Lippen, in dem Alles lag: die Erinnerung an einen
ſchlanken Knaben, den er auf den Knien geſchaukelt hatte, die
unbeſchreiblichen Hoffnungen und Wünſche, welche ſich an ſeine
Zukunft geknüpft hatten, der Gedanke an viele Jahre harter
Arbeit, an Liebe und Pflege um den Einzigen, und an einen
betrogenen Vater ...

Plötzlich ſchreckte er zuſammen, wie jäh aus einem Traume
erweckt: die Meiſterin ſtand neben ihm und hatte ſeine Schul¬
tern berührt.

„Vater, Dich drücken wieder ſchwere Sorgen ... Und
wie Du ausſiehſt, mein Gott ...“

„Wie immer, Mutter.“

Er fand ein Lächeln und zog die Alte ſanft an ſich. Und
als ſie mit ihren Lippen ſeine Stirn berührt hatte, ging es
ihm wie ein Frühlingswehen durch die Seele, ſodaß er ſein
Weib herzhaft küßte. Sie betraten dann die gute Stube.
Sein Blick fiel auf das Bild ſeines Sohnes. Franz war
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[182/0194] Sein eigener Sohn ſollte ihn beſtohlen haben, um ſich den Dank des Todfeindes zu verdienen? Der Gedanke war zu fürchterlich, als daß er es wagen durfte, ihn laut zu äußern, wäre es auch nur in einem Selbſtgeſpräche ... Als er aber endlich das Haupt erhob, deſſen Haare Sorge und Kummer der letzten Zeit früh gebleicht hatten, und er hinausblickte auf das rothe Gemäuer der Viadukte, das das Zimmer halb verdunkelte, ſah er verändert aus, als hätten Minuten Furchen in ſein Antlitz gezeichnet. Er ſchüttelte den Kopf, als wollte er mit Gewalt das nicht begreifen, was für ihn ſchreckliche Wahrheit war. Ein langer Seufzer kam über ſeine Lippen, in dem Alles lag: die Erinnerung an einen ſchlanken Knaben, den er auf den Knien geſchaukelt hatte, die unbeſchreiblichen Hoffnungen und Wünſche, welche ſich an ſeine Zukunft geknüpft hatten, der Gedanke an viele Jahre harter Arbeit, an Liebe und Pflege um den Einzigen, und an einen betrogenen Vater ... Plötzlich ſchreckte er zuſammen, wie jäh aus einem Traume erweckt: die Meiſterin ſtand neben ihm und hatte ſeine Schul¬ tern berührt. „Vater, Dich drücken wieder ſchwere Sorgen ... Und wie Du ausſiehſt, mein Gott ...“ „Wie immer, Mutter.“ Er fand ein Lächeln und zog die Alte ſanft an ſich. Und als ſie mit ihren Lippen ſeine Stirn berührt hatte, ging es ihm wie ein Frühlingswehen durch die Seele, ſodaß er ſein Weib herzhaft küßte. Sie betraten dann die gute Stube. Sein Blick fiel auf das Bild ſeines Sohnes. Franz war dargeſtellt als ein Jüngling von 16 Jahren. Meiſter Timpe

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 182. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/194>, abgerufen am 22.11.2024.