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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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Und diesmal unterbrach ihn Timpe nicht mit seinen früheren
Worten: weiß schon, weiß schon, sondern ließ den Altgesellen
weiterreden und wandte ihm seine ganze Aufmerksamkeit zu.
Und dieser fuhr fort:

"Wir leben in einer Zeit, wo der Egoismus das Christen¬
thum immer mehr und mehr verdrängt. Es heißt nicht mehr
"Hilf Deinem Nächsten", sondern "Tödte Deinen Nächsten";
nicht mehr, "Liebet euch unter einander", sondern "Fürchtet
euch vor einander". Ich wollte nur fragen: Stehen Sie
immer noch auf Ihrem alten Standpunkt; denken Sie immer
noch nicht anders? glauben Sie immer noch, daß die Erde
mit ihren Schätzen nur für Wenige geschaffen sei und nicht
für Alle?"

"Mein lieber Beyer", erwiderte Timpe, "das Unglück
hat angefangen mich zu verfolgen; aber trotzdem werde ich
mich nicht auflehnen gegen die Gesetze der Menschen und
ihre Satzungen. Gehe ich zu Grunde, so werde ich das als
eine Nothwendigkeit der Ordnung dieser Welt betrachten.
Aber ich werde mit Ehren zu Grunde gehen, und wer das
von sich sagen kann, der nimmt ein schönes Bewußtsein mit.
Ich glaube an einen Gott, und dessen Fügungen sind wunder¬
bar. Mein Wahlspruch heißt: Thue Recht und scheue Niemand.
Ich weiß schon lange: die Sozialdemokratie hat Ihnen den
Kopf verdreht, aber ich will den meinigen gerade behalten.
Sie sind einer von der besseren Sorte, lieber Beyer, denn
Sie sind ein Schwärmer. Aber sehen Sie: Ich habe einmal
gelesen, daß Kaiser Karl der Fünfte sein ganzes Leben lang
sich damit gequält hat, zwei Uhren in die gleiche Gangart zu
bringen, ohne daß es ihm gelungen wäre. Gerade so ist es
mit den Menschen: nicht zwei von ihnen besitzen die gleichen

Und diesmal unterbrach ihn Timpe nicht mit ſeinen früheren
Worten: weiß ſchon, weiß ſchon, ſondern ließ den Altgeſellen
weiterreden und wandte ihm ſeine ganze Aufmerkſamkeit zu.
Und dieſer fuhr fort:

„Wir leben in einer Zeit, wo der Egoismus das Chriſten¬
thum immer mehr und mehr verdrängt. Es heißt nicht mehr
„Hilf Deinem Nächſten“, ſondern „Tödte Deinen Nächſten“;
nicht mehr, „Liebet euch unter einander“, ſondern „Fürchtet
euch vor einander“. Ich wollte nur fragen: Stehen Sie
immer noch auf Ihrem alten Standpunkt; denken Sie immer
noch nicht anders? glauben Sie immer noch, daß die Erde
mit ihren Schätzen nur für Wenige geſchaffen ſei und nicht
für Alle?“

„Mein lieber Beyer“, erwiderte Timpe, „das Unglück
hat angefangen mich zu verfolgen; aber trotzdem werde ich
mich nicht auflehnen gegen die Geſetze der Menſchen und
ihre Satzungen. Gehe ich zu Grunde, ſo werde ich das als
eine Nothwendigkeit der Ordnung dieſer Welt betrachten.
Aber ich werde mit Ehren zu Grunde gehen, und wer das
von ſich ſagen kann, der nimmt ein ſchönes Bewußtſein mit.
Ich glaube an einen Gott, und deſſen Fügungen ſind wunder¬
bar. Mein Wahlſpruch heißt: Thue Recht und ſcheue Niemand.
Ich weiß ſchon lange: die Sozialdemokratie hat Ihnen den
Kopf verdreht, aber ich will den meinigen gerade behalten.
Sie ſind einer von der beſſeren Sorte, lieber Beyer, denn
Sie ſind ein Schwärmer. Aber ſehen Sie: Ich habe einmal
geleſen, daß Kaiſer Karl der Fünfte ſein ganzes Leben lang
ſich damit gequält hat, zwei Uhren in die gleiche Gangart zu
bringen, ohne daß es ihm gelungen wäre. Gerade ſo iſt es
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[170/0182] Und diesmal unterbrach ihn Timpe nicht mit ſeinen früheren Worten: weiß ſchon, weiß ſchon, ſondern ließ den Altgeſellen weiterreden und wandte ihm ſeine ganze Aufmerkſamkeit zu. Und dieſer fuhr fort: „Wir leben in einer Zeit, wo der Egoismus das Chriſten¬ thum immer mehr und mehr verdrängt. Es heißt nicht mehr „Hilf Deinem Nächſten“, ſondern „Tödte Deinen Nächſten“; nicht mehr, „Liebet euch unter einander“, ſondern „Fürchtet euch vor einander“. Ich wollte nur fragen: Stehen Sie immer noch auf Ihrem alten Standpunkt; denken Sie immer noch nicht anders? glauben Sie immer noch, daß die Erde mit ihren Schätzen nur für Wenige geſchaffen ſei und nicht für Alle?“ „Mein lieber Beyer“, erwiderte Timpe, „das Unglück hat angefangen mich zu verfolgen; aber trotzdem werde ich mich nicht auflehnen gegen die Geſetze der Menſchen und ihre Satzungen. Gehe ich zu Grunde, ſo werde ich das als eine Nothwendigkeit der Ordnung dieſer Welt betrachten. Aber ich werde mit Ehren zu Grunde gehen, und wer das von ſich ſagen kann, der nimmt ein ſchönes Bewußtſein mit. Ich glaube an einen Gott, und deſſen Fügungen ſind wunder¬ bar. Mein Wahlſpruch heißt: Thue Recht und ſcheue Niemand. Ich weiß ſchon lange: die Sozialdemokratie hat Ihnen den Kopf verdreht, aber ich will den meinigen gerade behalten. Sie ſind einer von der beſſeren Sorte, lieber Beyer, denn Sie ſind ein Schwärmer. Aber ſehen Sie: Ich habe einmal geleſen, daß Kaiſer Karl der Fünfte ſein ganzes Leben lang ſich damit gequält hat, zwei Uhren in die gleiche Gangart zu bringen, ohne daß es ihm gelungen wäre. Gerade ſo iſt es mit den Menſchen: nicht zwei von ihnen beſitzen die gleichen

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/182>, abgerufen am 22.11.2024.