Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

Bild:
<< vorherige Seite

hatte das Nachtlager des Alten bereits seit längerer Zeit
unten in der guten Stube aufgeschlagen, und jedesmal, bevor
der Meister sich zur Ruhe legte, stattete er mit leisem Tritte
dem Vater einen Besuch ab, um sich von seinem Wohlsein
zu überzeugen.

So gebrechlich aber auch der Körper Gottfried Timpes
war, sein Geist blieb bei alledem frisch, sein Gehör war noch
immer dasselbe feine wie früher, und sein Gedächtniß das¬
selbe starke. Die Folge davon war, daß er die Stunden da¬
mit ausfüllte, sich Erinnerungen an vergangene Zeiten hin¬
zugeben. Sein geistiger Blick war immer nur nach rückwärts
gerichtet. Und so glich er schließlich einem verlorenen Welt¬
körper, der abseits von der großen Heerstraße seine eigenen
Kreise zieht und das Leben aus sich heraus gestaltet.
Das Merkwürdigste war, daß, seitdem er nicht mehr
im Hause herumgehen konnte, die Lust zur Unterhaltung
bei ihm gestiegen war. Er wollte von allem unterrichtet
sein, was um ihn her vorging und Frau Karoline mußte
stundenlang bei ihm sitzen, um seine Fragen so lange über sich
ergehen zu lassen, bis ihm der Athem ausging. Es bedurfte
nur der leisesten Andeutung, irgend eines Hinweises auf eine
neue Straße, eine neue Brücke u. s. w., um ihn vom Berlin
der alten Tage sprechen zu hören. Dann feierte sein Gedächt¬
niß Triumphe. Er erinnerte sich irgend eines alten Hauses,
eines Platzes, origineller Menschen, mit denen er zu thun
gehabt hatte, und die nun nicht mehr zu finden waren. Auch
der Humor kam zum Vorschein, wenn er von seinen Knaben¬
jahren sprach und die Gewohnheiten von Nachbar Hinz und
Kunz beschrieb. Dann sagte er ungefähr Folgendes: " ... Der
trug die Nase auch 'mal bis zum Himmel und wußte nicht

hatte das Nachtlager des Alten bereits ſeit längerer Zeit
unten in der guten Stube aufgeſchlagen, und jedesmal, bevor
der Meiſter ſich zur Ruhe legte, ſtattete er mit leiſem Tritte
dem Vater einen Beſuch ab, um ſich von ſeinem Wohlſein
zu überzeugen.

So gebrechlich aber auch der Körper Gottfried Timpes
war, ſein Geiſt blieb bei alledem friſch, ſein Gehör war noch
immer daſſelbe feine wie früher, und ſein Gedächtniß das¬
ſelbe ſtarke. Die Folge davon war, daß er die Stunden da¬
mit ausfüllte, ſich Erinnerungen an vergangene Zeiten hin¬
zugeben. Sein geiſtiger Blick war immer nur nach rückwärts
gerichtet. Und ſo glich er ſchließlich einem verlorenen Welt¬
körper, der abſeits von der großen Heerſtraße ſeine eigenen
Kreiſe zieht und das Leben aus ſich heraus geſtaltet.
Das Merkwürdigſte war, daß, ſeitdem er nicht mehr
im Hauſe herumgehen konnte, die Luſt zur Unterhaltung
bei ihm geſtiegen war. Er wollte von allem unterrichtet
ſein, was um ihn her vorging und Frau Karoline mußte
ſtundenlang bei ihm ſitzen, um ſeine Fragen ſo lange über ſich
ergehen zu laſſen, bis ihm der Athem ausging. Es bedurfte
nur der leiſeſten Andeutung, irgend eines Hinweiſes auf eine
neue Straße, eine neue Brücke u. ſ. w., um ihn vom Berlin
der alten Tage ſprechen zu hören. Dann feierte ſein Gedächt¬
niß Triumphe. Er erinnerte ſich irgend eines alten Hauſes,
eines Platzes, origineller Menſchen, mit denen er zu thun
gehabt hatte, und die nun nicht mehr zu finden waren. Auch
der Humor kam zum Vorſchein, wenn er von ſeinen Knaben¬
jahren ſprach und die Gewohnheiten von Nachbar Hinz und
Kunz beſchrieb. Dann ſagte er ungefähr Folgendes: „ ... Der
trug die Naſe auch 'mal bis zum Himmel und wußte nicht

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0171" n="159"/>
hatte das Nachtlager des Alten bereits &#x017F;eit längerer Zeit<lb/>
unten in der guten Stube aufge&#x017F;chlagen, und jedesmal, bevor<lb/>
der Mei&#x017F;ter &#x017F;ich zur Ruhe legte, &#x017F;tattete er mit lei&#x017F;em Tritte<lb/>
dem Vater einen Be&#x017F;uch ab, um &#x017F;ich von &#x017F;einem Wohl&#x017F;ein<lb/>
zu überzeugen.</p><lb/>
        <p>So gebrechlich aber auch der Körper Gottfried Timpes<lb/>
war, &#x017F;ein Gei&#x017F;t blieb bei alledem fri&#x017F;ch, &#x017F;ein Gehör war noch<lb/>
immer da&#x017F;&#x017F;elbe feine wie früher, und &#x017F;ein Gedächtniß das¬<lb/>
&#x017F;elbe &#x017F;tarke. Die Folge davon war, daß er die Stunden da¬<lb/>
mit ausfüllte, &#x017F;ich Erinnerungen an vergangene Zeiten hin¬<lb/>
zugeben. Sein gei&#x017F;tiger Blick war immer nur nach rückwärts<lb/>
gerichtet. Und &#x017F;o glich er &#x017F;chließlich einem verlorenen Welt¬<lb/>
körper, der ab&#x017F;eits von der großen Heer&#x017F;traße &#x017F;eine eigenen<lb/>
Krei&#x017F;e zieht und das Leben aus &#x017F;ich heraus ge&#x017F;taltet.<lb/>
Das Merkwürdig&#x017F;te war, daß, &#x017F;eitdem er nicht mehr<lb/>
im Hau&#x017F;e herumgehen konnte, die Lu&#x017F;t zur Unterhaltung<lb/>
bei ihm ge&#x017F;tiegen war. Er wollte von allem unterrichtet<lb/>
&#x017F;ein, was um ihn her vorging und Frau Karoline mußte<lb/>
&#x017F;tundenlang bei ihm &#x017F;itzen, um &#x017F;eine Fragen &#x017F;o lange über &#x017F;ich<lb/>
ergehen zu la&#x017F;&#x017F;en, bis ihm der Athem ausging. Es bedurfte<lb/>
nur der lei&#x017F;e&#x017F;ten Andeutung, irgend eines Hinwei&#x017F;es auf eine<lb/>
neue Straße, eine neue Brücke u. &#x017F;. w., um ihn vom Berlin<lb/>
der alten Tage &#x017F;prechen zu hören. Dann feierte &#x017F;ein Gedächt¬<lb/>
niß Triumphe. Er erinnerte &#x017F;ich irgend eines alten Hau&#x017F;es,<lb/>
eines Platzes, origineller Men&#x017F;chen, mit denen er zu thun<lb/>
gehabt hatte, und die nun nicht mehr zu finden waren. Auch<lb/>
der Humor kam zum Vor&#x017F;chein, wenn er von &#x017F;einen Knaben¬<lb/>
jahren &#x017F;prach und die Gewohnheiten von Nachbar Hinz und<lb/>
Kunz be&#x017F;chrieb. Dann &#x017F;agte er ungefähr Folgendes: &#x201E; ... Der<lb/>
trug die Na&#x017F;e auch 'mal bis zum Himmel und wußte nicht<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[159/0171] hatte das Nachtlager des Alten bereits ſeit längerer Zeit unten in der guten Stube aufgeſchlagen, und jedesmal, bevor der Meiſter ſich zur Ruhe legte, ſtattete er mit leiſem Tritte dem Vater einen Beſuch ab, um ſich von ſeinem Wohlſein zu überzeugen. So gebrechlich aber auch der Körper Gottfried Timpes war, ſein Geiſt blieb bei alledem friſch, ſein Gehör war noch immer daſſelbe feine wie früher, und ſein Gedächtniß das¬ ſelbe ſtarke. Die Folge davon war, daß er die Stunden da¬ mit ausfüllte, ſich Erinnerungen an vergangene Zeiten hin¬ zugeben. Sein geiſtiger Blick war immer nur nach rückwärts gerichtet. Und ſo glich er ſchließlich einem verlorenen Welt¬ körper, der abſeits von der großen Heerſtraße ſeine eigenen Kreiſe zieht und das Leben aus ſich heraus geſtaltet. Das Merkwürdigſte war, daß, ſeitdem er nicht mehr im Hauſe herumgehen konnte, die Luſt zur Unterhaltung bei ihm geſtiegen war. Er wollte von allem unterrichtet ſein, was um ihn her vorging und Frau Karoline mußte ſtundenlang bei ihm ſitzen, um ſeine Fragen ſo lange über ſich ergehen zu laſſen, bis ihm der Athem ausging. Es bedurfte nur der leiſeſten Andeutung, irgend eines Hinweiſes auf eine neue Straße, eine neue Brücke u. ſ. w., um ihn vom Berlin der alten Tage ſprechen zu hören. Dann feierte ſein Gedächt¬ niß Triumphe. Er erinnerte ſich irgend eines alten Hauſes, eines Platzes, origineller Menſchen, mit denen er zu thun gehabt hatte, und die nun nicht mehr zu finden waren. Auch der Humor kam zum Vorſchein, wenn er von ſeinen Knaben¬ jahren ſprach und die Gewohnheiten von Nachbar Hinz und Kunz beſchrieb. Dann ſagte er ungefähr Folgendes: „ ... Der trug die Naſe auch 'mal bis zum Himmel und wußte nicht

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/171
Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/171>, abgerufen am 25.11.2024.