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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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"Die großen Fabriken sind der Ruin des Handwerks,
nur sie ganz allein", begann er. "Es wird eines Tages
keine Handwerker mehr geben, nur noch Arbeiter. Und das wird
der Untergang des Staates und des gesunden Bürgerthums sein.
Wenn das Haus seine Hauptstütze verliert, bricht es in sich zu¬
sammen. In unserem Stande lernt heute Niemand mehr
etwas. Die Lehrlinge werden in den Fabriken nur zu Tage¬
löhnern herangebildet. Haben sie ausgelernt, sind sie eigent¬
lich nur noch Arbeitsleute. Der Eine fertigt Jahr aus Jahr
ein diesen Theil an und der Andere jenen, aber Keiner hat
eine Ahnung vom Ganzen. Das ist gerade wie bei den
Spezialärzten, die eine Krankheitserscheinung sehr genau stu¬
dirt haben, ihr ganzes Leben lang ein und dasselbe Gebrechen
kuriren, in anderen Fällen aber nicht vertrauenswürdig er¬
scheinen ... Und das wäre Alles nicht so, wenn die Maschine
nicht die Handarbeit überflüssig gemacht hätte. Wo früher
hundert Hände nothwendig waren zur Herstellung eines
Gegenstandes, genügen heute zwei, die nur nöthig haben in
mechanischer Weise das Material in die richtige Lage
zu bringen, das Andere thut das Räderwerk. In
acht Tagen lernt heute Einer das, wozu er in
früheren Zeiten Jahre bedurfte. Aber was noch schlimmer
ist: die Maschine schafft auf der einen Seite zehnfachen Reich¬
thum und auf der anderen tausendfache Armuth . . . Du
mein Gott, wie Viele habe ich so zu Grunde gehen sehen!
Da drüben der Hüttig . . . der Ortmann um die Ecke . . .
der Sippert jenseits der Spree -- sie alle drei haben als
Leute mit grauen Haaren ihre Zuflucht zu der Fabrik nehmen
müssen. Und was wird aus ihren Kindern? Sie werden
eines Tages dasselbe, was ihre Väter heute sind: Fabrik¬

Kretzer, Meister Timpe. 10

„Die großen Fabriken ſind der Ruin des Handwerks,
nur ſie ganz allein“, begann er. „Es wird eines Tages
keine Handwerker mehr geben, nur noch Arbeiter. Und das wird
der Untergang des Staates und des geſunden Bürgerthums ſein.
Wenn das Haus ſeine Hauptſtütze verliert, bricht es in ſich zu¬
ſammen. In unſerem Stande lernt heute Niemand mehr
etwas. Die Lehrlinge werden in den Fabriken nur zu Tage¬
löhnern herangebildet. Haben ſie ausgelernt, ſind ſie eigent¬
lich nur noch Arbeitsleute. Der Eine fertigt Jahr aus Jahr
ein dieſen Theil an und der Andere jenen, aber Keiner hat
eine Ahnung vom Ganzen. Das iſt gerade wie bei den
Spezialärzten, die eine Krankheitserſcheinung ſehr genau ſtu¬
dirt haben, ihr ganzes Leben lang ein und daſſelbe Gebrechen
kuriren, in anderen Fällen aber nicht vertrauenswürdig er¬
ſcheinen ... Und das wäre Alles nicht ſo, wenn die Maſchine
nicht die Handarbeit überflüſſig gemacht hätte. Wo früher
hundert Hände nothwendig waren zur Herſtellung eines
Gegenſtandes, genügen heute zwei, die nur nöthig haben in
mechaniſcher Weiſe das Material in die richtige Lage
zu bringen, das Andere thut das Räderwerk. In
acht Tagen lernt heute Einer das, wozu er in
früheren Zeiten Jahre bedurfte. Aber was noch ſchlimmer
iſt: die Maſchine ſchafft auf der einen Seite zehnfachen Reich¬
thum und auf der anderen tauſendfache Armuth . . . Du
mein Gott, wie Viele habe ich ſo zu Grunde gehen ſehen!
Da drüben der Hüttig . . . der Ortmann um die Ecke . . .
der Sippert jenſeits der Spree — ſie alle drei haben als
Leute mit grauen Haaren ihre Zuflucht zu der Fabrik nehmen
müſſen. Und was wird aus ihren Kindern? Sie werden
eines Tages daſſelbe, was ihre Väter heute ſind: Fabrik¬

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[145/0157] „Die großen Fabriken ſind der Ruin des Handwerks, nur ſie ganz allein“, begann er. „Es wird eines Tages keine Handwerker mehr geben, nur noch Arbeiter. Und das wird der Untergang des Staates und des geſunden Bürgerthums ſein. Wenn das Haus ſeine Hauptſtütze verliert, bricht es in ſich zu¬ ſammen. In unſerem Stande lernt heute Niemand mehr etwas. Die Lehrlinge werden in den Fabriken nur zu Tage¬ löhnern herangebildet. Haben ſie ausgelernt, ſind ſie eigent¬ lich nur noch Arbeitsleute. Der Eine fertigt Jahr aus Jahr ein dieſen Theil an und der Andere jenen, aber Keiner hat eine Ahnung vom Ganzen. Das iſt gerade wie bei den Spezialärzten, die eine Krankheitserſcheinung ſehr genau ſtu¬ dirt haben, ihr ganzes Leben lang ein und daſſelbe Gebrechen kuriren, in anderen Fällen aber nicht vertrauenswürdig er¬ ſcheinen ... Und das wäre Alles nicht ſo, wenn die Maſchine nicht die Handarbeit überflüſſig gemacht hätte. Wo früher hundert Hände nothwendig waren zur Herſtellung eines Gegenſtandes, genügen heute zwei, die nur nöthig haben in mechaniſcher Weiſe das Material in die richtige Lage zu bringen, das Andere thut das Räderwerk. In acht Tagen lernt heute Einer das, wozu er in früheren Zeiten Jahre bedurfte. Aber was noch ſchlimmer iſt: die Maſchine ſchafft auf der einen Seite zehnfachen Reich¬ thum und auf der anderen tauſendfache Armuth . . . Du mein Gott, wie Viele habe ich ſo zu Grunde gehen ſehen! Da drüben der Hüttig . . . der Ortmann um die Ecke . . . der Sippert jenſeits der Spree — ſie alle drei haben als Leute mit grauen Haaren ihre Zuflucht zu der Fabrik nehmen müſſen. Und was wird aus ihren Kindern? Sie werden eines Tages daſſelbe, was ihre Väter heute ſind: Fabrik¬ Kretzer, Meiſter Timpe. 10

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/157>, abgerufen am 24.11.2024.