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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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langen blonden Mähne eher einem Künstler glich. Aber
die ersten silbernen Fäden, die sie durchzogen, zeugten von
frühen Sorgen. Vor fünf Jahren besaß er ein eigenes
Möbelgeschäft; aber die Großindustrie hatte ihn zu Grunde ge¬
richtet. Jetzt arbeitete er Jahraus Jahrein denselben Artikel
für Händler. An Sonnabenden war es ihm oft nicht mög¬
lich, den Lohn für die Gesellen zusammenzubringen. Dann
mußte er die Möbelstücke um jeden Preis losschlagen, wollte
er nur baares Geld sehen.

"Ich meine", begann er, "daß die Gewerbefreiheit an
Allem Schuld hat, denn sie hat die freie Konkurrenz ge¬
schaffen und ruinirt die kleinen Leute, die nicht das nöthige
Betriebskapital besitzen, um günstige Einkäufe zu machen und
daher auch billiger zu produziren.

Herr Brümmer schüttelte den Kopf. Da er sorgenlos
lebte, so konnte er diesen ganzen Streit nicht begreifen.
Außerdem ließ er sich nicht gern in seiner Ruhe stören. Zum
zweiten Male ergriff er das Wort. "Lassen Sie doch alles
gehen, wie es will. Wir werden die Welt nicht bessern",
sagte er voller Ueberzeugung . . . Die Unterhaltung wurde
nun immer erregter, die Ansichten unklarer und verwirrter.
Jeder wollte allein sprechen und ließ den anderen nicht aus¬
reden.

"Nun Timpe, was sagen Sie denn?" rief der Schorn¬
steinfegermeister ihm zu. Der Drechsler hatte bisher kein
Wort gesagt, sondern still vor sich hingeblickt. Die wüste
Unterhaltung schien ihm zwecklos. Es waren die alten
Redensarten, die er schon so oft an diesem Tische vernommen
hatte. Endlich erlaubte er sich eine bescheidene Meinung zu
äußern:

langen blonden Mähne eher einem Künſtler glich. Aber
die erſten ſilbernen Fäden, die ſie durchzogen, zeugten von
frühen Sorgen. Vor fünf Jahren beſaß er ein eigenes
Möbelgeſchäft; aber die Großinduſtrie hatte ihn zu Grunde ge¬
richtet. Jetzt arbeitete er Jahraus Jahrein denſelben Artikel
für Händler. An Sonnabenden war es ihm oft nicht mög¬
lich, den Lohn für die Geſellen zuſammenzubringen. Dann
mußte er die Möbelſtücke um jeden Preis losſchlagen, wollte
er nur baares Geld ſehen.

„Ich meine“, begann er, „daß die Gewerbefreiheit an
Allem Schuld hat, denn ſie hat die freie Konkurrenz ge¬
ſchaffen und ruinirt die kleinen Leute, die nicht das nöthige
Betriebskapital beſitzen, um günſtige Einkäufe zu machen und
daher auch billiger zu produziren.

Herr Brümmer ſchüttelte den Kopf. Da er ſorgenlos
lebte, ſo konnte er dieſen ganzen Streit nicht begreifen.
Außerdem ließ er ſich nicht gern in ſeiner Ruhe ſtören. Zum
zweiten Male ergriff er das Wort. „Laſſen Sie doch alles
gehen, wie es will. Wir werden die Welt nicht beſſern“,
ſagte er voller Ueberzeugung . . . Die Unterhaltung wurde
nun immer erregter, die Anſichten unklarer und verwirrter.
Jeder wollte allein ſprechen und ließ den anderen nicht aus¬
reden.

„Nun Timpe, was ſagen Sie denn?“ rief der Schorn¬
ſteinfegermeiſter ihm zu. Der Drechsler hatte bisher kein
Wort geſagt, ſondern ſtill vor ſich hingeblickt. Die wüſte
Unterhaltung ſchien ihm zwecklos. Es waren die alten
Redensarten, die er ſchon ſo oft an dieſem Tiſche vernommen
hatte. Endlich erlaubte er ſich eine beſcheidene Meinung zu
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[144/0156] langen blonden Mähne eher einem Künſtler glich. Aber die erſten ſilbernen Fäden, die ſie durchzogen, zeugten von frühen Sorgen. Vor fünf Jahren beſaß er ein eigenes Möbelgeſchäft; aber die Großinduſtrie hatte ihn zu Grunde ge¬ richtet. Jetzt arbeitete er Jahraus Jahrein denſelben Artikel für Händler. An Sonnabenden war es ihm oft nicht mög¬ lich, den Lohn für die Geſellen zuſammenzubringen. Dann mußte er die Möbelſtücke um jeden Preis losſchlagen, wollte er nur baares Geld ſehen. „Ich meine“, begann er, „daß die Gewerbefreiheit an Allem Schuld hat, denn ſie hat die freie Konkurrenz ge¬ ſchaffen und ruinirt die kleinen Leute, die nicht das nöthige Betriebskapital beſitzen, um günſtige Einkäufe zu machen und daher auch billiger zu produziren. Herr Brümmer ſchüttelte den Kopf. Da er ſorgenlos lebte, ſo konnte er dieſen ganzen Streit nicht begreifen. Außerdem ließ er ſich nicht gern in ſeiner Ruhe ſtören. Zum zweiten Male ergriff er das Wort. „Laſſen Sie doch alles gehen, wie es will. Wir werden die Welt nicht beſſern“, ſagte er voller Ueberzeugung . . . Die Unterhaltung wurde nun immer erregter, die Anſichten unklarer und verwirrter. Jeder wollte allein ſprechen und ließ den anderen nicht aus¬ reden. „Nun Timpe, was ſagen Sie denn?“ rief der Schorn¬ ſteinfegermeiſter ihm zu. Der Drechsler hatte bisher kein Wort geſagt, ſondern ſtill vor ſich hingeblickt. Die wüſte Unterhaltung ſchien ihm zwecklos. Es waren die alten Redensarten, die er ſchon ſo oft an dieſem Tiſche vernommen hatte. Endlich erlaubte er ſich eine beſcheidene Meinung zu äußern:

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/156>, abgerufen am 22.11.2024.