Kraepelin, Emil: Ueber die Beeinflussung einfacher psychischer Vorgänge durch einige Arzneimittel. Jena, 1892.Freilich dort, wo ein wachsames Auge, grosse Umsicht, stete Bereit- Mit ganz besonderer Energie hat die Temperenzbewegung überall *) Anwendung des Aethylalkohol bei Geisteskranken, Archiv f. Psychiatrie,
1874, IV, p. 216 ss. Freilich dort, wo ein wachsames Auge, grosse Umsicht, stete Bereit- Mit ganz besonderer Energie hat die Temperenzbewegung überall *) Anwendung des Aethylalkohol bei Geisteskranken, Archiv f. Psychiatrie,
1874, IV, p. 216 ss. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0223" n="207"/> Freilich dort, wo ein wachsames Auge, grosse Umsicht, stete Bereit-<lb/> schaft zu entscheidendem Handeln gefordert ist, wird die leichte eupho-<lb/> rische Narkose durch den Alkohol trotz ihres subjectiven Nutzens un-<lb/> zweckmässig. Wenn man aber als ohnmächtiger Zuschauer schweres<lb/> Leid über sich ergehen lassen muss, so ist meiner Ueberzeugung nach<lb/> die Linderung des depressiven Affectes durch kleine Gaben Alkohol<lb/> aus psychischen Gründen angezeigt. Ich habe im Hinblick auf diese<lb/> Wirkungen des Alkohols hie und da die methodische Anwendung des-<lb/> selben in melancholischen Erkrankungen versucht. Die besonderen<lb/> Eigenschaften des Mittels pflegen sich auch hier nicht zu verleugnen,<lb/> allein da die Depression nur ein Symptom, nicht die Krankheit ist,<lb/> so kann ein entscheidender, dauernder Einfluss auf den Gesammt-<lb/> zustand nicht erwartet werden. Ueberdies ist der Verlauf einer Me-<lb/> lancholie stets ein so langwieriger, dass eine einigermassen consequente<lb/> und wirksame Darreichung des Alkohols die Gefahren einer chroni-<lb/> schen Vergiftung herbeiführen würde. Zur gelegentlichen Erleichte-<lb/> rung besonders peinigender Verstimmung leistet indessen das Mittel<lb/> in der That gute Dienste. <hi rendition="#g">Obermeier</hi><note place="foot" n="*)">Anwendung des Aethylalkohol bei Geisteskranken, Archiv f. Psychiatrie,<lb/> 1874, IV, p. 216 ss.</note> hat dasselbe seinerzeit in<lb/> stuporösen Zuständen zu diagnostischen Zwecken benutzt, um die<lb/> Kranken zu Aeusserungen zu veranlassen, aus denen man ein Bild<lb/> von den Vorgängen in ihrem Innern gewinnen könnte.</p><lb/> <p>Mit ganz besonderer Energie hat die Temperenzbewegung überall<lb/> den gewohnheitsmässigen Genuss des Alkohols <hi rendition="#g">bei geselligen Zu-<lb/> sammenkünften</hi> bekämpft. Mit Recht ist darauf hingewiesen worden,<lb/> dass wir durch das Mittel nicht geistreicher werden, und dass wir uns<lb/> leicht zu unbedachten Reden und Handlungen hinreissen lassen. Die Ein-<lb/> drücke, die ein Nüchterner in der Gesellschaft Angetrunkener erfährt, sind<lb/> ja in der That drastisch genug. Ohne Zweifel kann man im intimen<lb/> Kreise und unter lebhaften Menschen die Anregung durch den Alkohol<lb/> sehr gut entbehren. Dagegen wird die Gewohnheit grösserer, nach<lb/> Zufall zusammengewürfelter geselliger Vereinigungen kaum auf ein<lb/> Mittel verzichten dürfen, welches den Einsilbigen gesprächiger, den<lb/> Verlegenen selbstbewusster macht und die starke Reibung vermindert,<lb/> die nothwendig den Verkehr einander innerlich fernstehender und gleich-<lb/> gültiger Menschen erschwert. In diesem Sinne ist die Verwendung<lb/> kleiner Alkoholmengen bei den bestehenden gesellschaftlichen Verhält-<lb/> nissen allerdings angezeigt; er mildert wenigstens das Uebel, dessen<lb/> Beseitigung ihn überflüssig machen würde.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [207/0223]
Freilich dort, wo ein wachsames Auge, grosse Umsicht, stete Bereit-
schaft zu entscheidendem Handeln gefordert ist, wird die leichte eupho-
rische Narkose durch den Alkohol trotz ihres subjectiven Nutzens un-
zweckmässig. Wenn man aber als ohnmächtiger Zuschauer schweres
Leid über sich ergehen lassen muss, so ist meiner Ueberzeugung nach
die Linderung des depressiven Affectes durch kleine Gaben Alkohol
aus psychischen Gründen angezeigt. Ich habe im Hinblick auf diese
Wirkungen des Alkohols hie und da die methodische Anwendung des-
selben in melancholischen Erkrankungen versucht. Die besonderen
Eigenschaften des Mittels pflegen sich auch hier nicht zu verleugnen,
allein da die Depression nur ein Symptom, nicht die Krankheit ist,
so kann ein entscheidender, dauernder Einfluss auf den Gesammt-
zustand nicht erwartet werden. Ueberdies ist der Verlauf einer Me-
lancholie stets ein so langwieriger, dass eine einigermassen consequente
und wirksame Darreichung des Alkohols die Gefahren einer chroni-
schen Vergiftung herbeiführen würde. Zur gelegentlichen Erleichte-
rung besonders peinigender Verstimmung leistet indessen das Mittel
in der That gute Dienste. Obermeier *) hat dasselbe seinerzeit in
stuporösen Zuständen zu diagnostischen Zwecken benutzt, um die
Kranken zu Aeusserungen zu veranlassen, aus denen man ein Bild
von den Vorgängen in ihrem Innern gewinnen könnte.
Mit ganz besonderer Energie hat die Temperenzbewegung überall
den gewohnheitsmässigen Genuss des Alkohols bei geselligen Zu-
sammenkünften bekämpft. Mit Recht ist darauf hingewiesen worden,
dass wir durch das Mittel nicht geistreicher werden, und dass wir uns
leicht zu unbedachten Reden und Handlungen hinreissen lassen. Die Ein-
drücke, die ein Nüchterner in der Gesellschaft Angetrunkener erfährt, sind
ja in der That drastisch genug. Ohne Zweifel kann man im intimen
Kreise und unter lebhaften Menschen die Anregung durch den Alkohol
sehr gut entbehren. Dagegen wird die Gewohnheit grösserer, nach
Zufall zusammengewürfelter geselliger Vereinigungen kaum auf ein
Mittel verzichten dürfen, welches den Einsilbigen gesprächiger, den
Verlegenen selbstbewusster macht und die starke Reibung vermindert,
die nothwendig den Verkehr einander innerlich fernstehender und gleich-
gültiger Menschen erschwert. In diesem Sinne ist die Verwendung
kleiner Alkoholmengen bei den bestehenden gesellschaftlichen Verhält-
nissen allerdings angezeigt; er mildert wenigstens das Uebel, dessen
Beseitigung ihn überflüssig machen würde.
*) Anwendung des Aethylalkohol bei Geisteskranken, Archiv f. Psychiatrie,
1874, IV, p. 216 ss.
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