Gefühle der inneren Anstrengung, welches im Beginne der Versuche geringer ist, später aber, mit wachsender Ermüdung, zunimmt. Die Einleitung jeder Gruppe von Schätzungen bildet jedoch die passive Auffassung des Normalintervalles, welches uns den Massstab für alle folgenden activen Abgrenzungen der einzelnen Zeitabschnitte an die Hand giebt. Wie die Erfahrung lehrt, ist es ziemlich unbehaglich, auch nur eine halbe Minute lang mit gespannter Aufmerksamkeit den Ablauf einer inhaltlosen Zeitstrecke zu verfolgen und auf das Signal zu warten, welches den Beginn der activen Schätzung ankündigt. Die Lösung jener ersteren Aufgabe wird uns voraussichtlich um so leichter fallen, je frischer wir an die Versuchsreihe herangehen. Nach dem oben formulirten Schätzungsprincip würde uns demnach die Normal- zeit kürzer erscheinen, wenn wir leistungsfähig, länger, wenn wir er- müdet sind. Dem entsprechend müssen die ersten activen Schätzungen unter sonst gleichen Umständen in jenem Falle relativ niedrige, in diesem dagegen verhältnissmässig hohe Werthe liefern. Im weiteren Verlaufe der Versuchsgruppe verwischt sich die Erinnerung an die Normalzeit sehr bald vollständig, und wir bemühen uns nur, jedes folgende Intervall dem vorangehenden möglichst gleich zu machen. Hier wird somit die Grösse der einzelnen Werthe ausschliesslich von den- jenigen Ursachen beherrscht, welche für die active Schätzung mass- gebend sind.
Unter diesem Gesichtspunkte würde somit die absolute Höhe der Anfangswerthe einer Versuchsreihe uns einen Massstab für den Grad der psychischen Leistungsfähigkeit im Beginne abgeben können. Je grösser die ersten Zahlen, desto geringer die anfängliche Leistungs- fähigkeit, desto näher der Gesammtzustand demjenigen der Ermüdung. Wir kämen auf diese Weise zu der paradoxen Anschauung, dass hohe Anfangs- und niedrige Endwerthe in gleicher Weise als Symptome der Ermüdung angesehen werden müssten. Dieselbe Ursache, welche die passiv aufgefassten Zeiten lang erscheinen lässt und darum zunächst die Schätzungsintervalle vergrössert, würde später auch zur Ver- kleinerung dieser letzteren führen. Dabei ist allerdings vorausgesetzt, dass im Allgemeinen die passive Auffassung der Normalstrecke für uns anstrengender ist, als die active Reproduction, resp. dass wir wenigstens unsere Aufmerksamkeit bei jenem Acte stärker anspannen, als bei diesem. Abgesehen von der allgemeinen Wahrscheinlichkeit, dass wir den Ablauf der massgebenden Normalzeit unwillkürlich mit grösserer Aufmerksamkeit verfolgen, spricht für jene Annahme auch der Umstand, dass thatsächlich schon die ersten Schätzungen fast
Gefühle der inneren Anstrengung, welches im Beginne der Versuche geringer ist, später aber, mit wachsender Ermüdung, zunimmt. Die Einleitung jeder Gruppe von Schätzungen bildet jedoch die passive Auffassung des Normalintervalles, welches uns den Massstab für alle folgenden activen Abgrenzungen der einzelnen Zeitabschnitte an die Hand giebt. Wie die Erfahrung lehrt, ist es ziemlich unbehaglich, auch nur eine halbe Minute lang mit gespannter Aufmerksamkeit den Ablauf einer inhaltlosen Zeitstrecke zu verfolgen und auf das Signal zu warten, welches den Beginn der activen Schätzung ankündigt. Die Lösung jener ersteren Aufgabe wird uns voraussichtlich um so leichter fallen, je frischer wir an die Versuchsreihe herangehen. Nach dem oben formulirten Schätzungsprincip würde uns demnach die Normal- zeit kürzer erscheinen, wenn wir leistungsfähig, länger, wenn wir er- müdet sind. Dem entsprechend müssen die ersten activen Schätzungen unter sonst gleichen Umständen in jenem Falle relativ niedrige, in diesem dagegen verhältnissmässig hohe Werthe liefern. Im weiteren Verlaufe der Versuchsgruppe verwischt sich die Erinnerung an die Normalzeit sehr bald vollständig, und wir bemühen uns nur, jedes folgende Intervall dem vorangehenden möglichst gleich zu machen. Hier wird somit die Grösse der einzelnen Werthe ausschliesslich von den- jenigen Ursachen beherrscht, welche für die active Schätzung mass- gebend sind.
Unter diesem Gesichtspunkte würde somit die absolute Höhe der Anfangswerthe einer Versuchsreihe uns einen Massstab für den Grad der psychischen Leistungsfähigkeit im Beginne abgeben können. Je grösser die ersten Zahlen, desto geringer die anfängliche Leistungs- fähigkeit, desto näher der Gesammtzustand demjenigen der Ermüdung. Wir kämen auf diese Weise zu der paradoxen Anschauung, dass hohe Anfangs- und niedrige Endwerthe in gleicher Weise als Symptome der Ermüdung angesehen werden müssten. Dieselbe Ursache, welche die passiv aufgefassten Zeiten lang erscheinen lässt und darum zunächst die Schätzungsintervalle vergrössert, würde später auch zur Ver- kleinerung dieser letzteren führen. Dabei ist allerdings vorausgesetzt, dass im Allgemeinen die passive Auffassung der Normalstrecke für uns anstrengender ist, als die active Reproduction, resp. dass wir wenigstens unsere Aufmerksamkeit bei jenem Acte stärker anspannen, als bei diesem. Abgesehen von der allgemeinen Wahrscheinlichkeit, dass wir den Ablauf der massgebenden Normalzeit unwillkürlich mit grösserer Aufmerksamkeit verfolgen, spricht für jene Annahme auch der Umstand, dass thatsächlich schon die ersten Schätzungen fast
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Gefühle der inneren Anstrengung, welches im Beginne der Versuche
geringer ist, später aber, mit wachsender Ermüdung, zunimmt. Die
Einleitung jeder Gruppe von Schätzungen bildet jedoch die passive
Auffassung des Normalintervalles, welches uns den Massstab für
alle folgenden activen Abgrenzungen der einzelnen Zeitabschnitte an
die Hand giebt. Wie die Erfahrung lehrt, ist es ziemlich unbehaglich,
auch nur eine halbe Minute lang mit gespannter Aufmerksamkeit den
Ablauf einer inhaltlosen Zeitstrecke zu verfolgen und auf das Signal
zu warten, welches den Beginn der activen Schätzung ankündigt. Die
Lösung jener ersteren Aufgabe wird uns voraussichtlich um so leichter
fallen, je frischer wir an die Versuchsreihe herangehen. Nach dem
oben formulirten Schätzungsprincip würde uns demnach die Normal-
zeit kürzer erscheinen, wenn wir leistungsfähig, länger, wenn wir er-
müdet sind. Dem entsprechend müssen die ersten activen Schätzungen
unter sonst gleichen Umständen in jenem Falle relativ niedrige, in
diesem dagegen verhältnissmässig hohe Werthe liefern. Im weiteren
Verlaufe der Versuchsgruppe verwischt sich die Erinnerung an die
Normalzeit sehr bald vollständig, und wir bemühen uns nur, jedes
folgende Intervall dem vorangehenden möglichst gleich zu machen. Hier
wird somit die Grösse der einzelnen Werthe ausschliesslich von den-
jenigen Ursachen beherrscht, welche für die active Schätzung mass-
gebend sind.
Unter diesem Gesichtspunkte würde somit die absolute Höhe der
Anfangswerthe einer Versuchsreihe uns einen Massstab für den Grad
der psychischen Leistungsfähigkeit im Beginne abgeben können. Je
grösser die ersten Zahlen, desto geringer die anfängliche Leistungs-
fähigkeit, desto näher der Gesammtzustand demjenigen der Ermüdung.
Wir kämen auf diese Weise zu der paradoxen Anschauung, dass hohe
Anfangs- und niedrige Endwerthe in gleicher Weise als Symptome
der Ermüdung angesehen werden müssten. Dieselbe Ursache, welche
die passiv aufgefassten Zeiten lang erscheinen lässt und darum zunächst
die Schätzungsintervalle vergrössert, würde später auch zur Ver-
kleinerung dieser letzteren führen. Dabei ist allerdings vorausgesetzt,
dass im Allgemeinen die passive Auffassung der Normalstrecke für
uns anstrengender ist, als die active Reproduction, resp. dass wir
wenigstens unsere Aufmerksamkeit bei jenem Acte stärker anspannen,
als bei diesem. Abgesehen von der allgemeinen Wahrscheinlichkeit,
dass wir den Ablauf der massgebenden Normalzeit unwillkürlich mit
grösserer Aufmerksamkeit verfolgen, spricht für jene Annahme auch
der Umstand, dass thatsächlich schon die ersten Schätzungen fast
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Kraepelin, Emil: Ueber die Beeinflussung einfacher psychischer Vorgänge durch einige Arzneimittel. Jena, 1892, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kraepelin_arzneimittel_1892/116>, abgerufen am 17.02.2025.
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