Kotzebue, August von: Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804. Bd. 2. Berlin, 1804.in ein Sprachzimmer, wo ich Langeweile befürchtete; in ein Sprachzimmer, wo ich Langeweile befuͤrchtete; <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0063" n="63"/> in ein Sprachzimmer, wo ich Langeweile befuͤrchtete;<lb/> doch mit Unrecht, denn hier war ich Zeuge von Szenen,<lb/> die mir nie wieder aus dem Gedaͤchtniße kommen wer-<lb/> den. Es war naͤmlich die Stunde, in welcher die ver-<lb/> wittweten Muͤtter ihre Soͤhne besuchen. Der Saal schien<lb/> darauf eingerichtet, eine Menge kleiner einzelner Grup-<lb/> pen zu fassen, denn es standen rings umher wohl ein<lb/> Dutzend kleiner, gruͤnbeschlagener Tische, um jeden ei-<lb/> nige Stuͤhle. Die Muͤtter hatten sich schon eingefun-<lb/> den, sie waren Alle fruͤher da, als die Stunde schlug,<lb/> Mutterliebe eilt der Zeit voraus. Mit Sehnsucht und<lb/> Erwartung waren ihre Blicke auf die Thuͤre geheftet.<lb/> Ein Sohn nach dem andern wird gerufen. Er tritt ein,<lb/> sein Blick schweift hastig umher, dann rennen Mutter<lb/> und Kind einander in die Arme. Die Eine nahm ihren<lb/> Sohn, einen derben Buben, von wenigsten 12 Jahren,<lb/><hi rendition="#g">auf den Schoos,</hi> und herzte ihn wie ein saͤugendes<lb/> Kind. Eine Andere saß mit dem Liebling am Tische,<lb/> sie hatte ihm Kastanien mitgebracht, die er mit großer<lb/> Eßlust verzehrte, waͤhrend sie still weinte, und sich alle<lb/> Augenblicke die Thraͤnen verstohlen abtrocknete. Eine<lb/> Dritte emfieng froͤhlich ihren froͤhlichen Sohn, der aber<lb/> kaum einen Augenblick am Mutterbusen gelegen hatte,<lb/> als er zuerst bitterlich zu weinen begann. — Alle Muͤt-<lb/> ter hatten Etwas mitgebracht, in Ridikuͤles, Schnupf-<lb/> tuͤchern, Koͤrben, Servietten. Manche Soͤhne nahmen<lb/> das froͤhlich hin, bei manchen trocknete es die Thraͤnen<lb/> nicht. Ein paar Knaben, die vermuthlich <hi rendition="#g">ganz</hi> ver-<lb/> wais't waren, saßen ernst an einem Tische, und hoͤrten<lb/> einem bejahrten Manne zu, der sehr guͤtig mit ihnen<lb/> sprach, vielleicht ein Freund ihrer verstorbenen Eltern.<lb/> Jhre Blicke schweiften immer nach den von ihren Muͤt-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [63/0063]
in ein Sprachzimmer, wo ich Langeweile befuͤrchtete;
doch mit Unrecht, denn hier war ich Zeuge von Szenen,
die mir nie wieder aus dem Gedaͤchtniße kommen wer-
den. Es war naͤmlich die Stunde, in welcher die ver-
wittweten Muͤtter ihre Soͤhne besuchen. Der Saal schien
darauf eingerichtet, eine Menge kleiner einzelner Grup-
pen zu fassen, denn es standen rings umher wohl ein
Dutzend kleiner, gruͤnbeschlagener Tische, um jeden ei-
nige Stuͤhle. Die Muͤtter hatten sich schon eingefun-
den, sie waren Alle fruͤher da, als die Stunde schlug,
Mutterliebe eilt der Zeit voraus. Mit Sehnsucht und
Erwartung waren ihre Blicke auf die Thuͤre geheftet.
Ein Sohn nach dem andern wird gerufen. Er tritt ein,
sein Blick schweift hastig umher, dann rennen Mutter
und Kind einander in die Arme. Die Eine nahm ihren
Sohn, einen derben Buben, von wenigsten 12 Jahren,
auf den Schoos, und herzte ihn wie ein saͤugendes
Kind. Eine Andere saß mit dem Liebling am Tische,
sie hatte ihm Kastanien mitgebracht, die er mit großer
Eßlust verzehrte, waͤhrend sie still weinte, und sich alle
Augenblicke die Thraͤnen verstohlen abtrocknete. Eine
Dritte emfieng froͤhlich ihren froͤhlichen Sohn, der aber
kaum einen Augenblick am Mutterbusen gelegen hatte,
als er zuerst bitterlich zu weinen begann. — Alle Muͤt-
ter hatten Etwas mitgebracht, in Ridikuͤles, Schnupf-
tuͤchern, Koͤrben, Servietten. Manche Soͤhne nahmen
das froͤhlich hin, bei manchen trocknete es die Thraͤnen
nicht. Ein paar Knaben, die vermuthlich ganz ver-
wais't waren, saßen ernst an einem Tische, und hoͤrten
einem bejahrten Manne zu, der sehr guͤtig mit ihnen
sprach, vielleicht ein Freund ihrer verstorbenen Eltern.
Jhre Blicke schweiften immer nach den von ihren Muͤt-
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