Ein junger Mensch kam aus der Provinz, seine Braut zu besuchen, er fand sie allein mit einem jungen Manne, vor ihr eine Akademie (Gypsstatüe), sie nahm, des Zeichnens halber, Unterricht in der Anato- mie. Wir waren eben, sagt der Meister, bei den Mus- keln der Lenden, jetzt wollen wir zum Abdomen über- gehen, und so springt des Mädchens Einbildungskraft von Muskel zu Muskel. -- Der Bräutigam fragt nach der Mutter. "O," antwortete die Braut, "das ist eine "kleine Libertine, sie hat in voriger Nacht zu viel ge- "walzt." -- Jetzt ersucht sie den Bräutigam, sie auf die Reitbahn zu begleiten. Dort schwingt sie sich auf den raschen Gaul und fliegt dahin im sausenden Gallop. Das gute Männchen aus der Provinz gafft ihr mit off- nem Munde nach.
Von der Reitbahn geht es in die Schwimm- schule (ecole de natation), hier begiebt sich die holde Braut in ein Kabinet, und erscheint bald darauf in einem weiten Badehemde; aber auch dieß läßt sie fallen, und steht da in Weste und Pantalons von Nankin, die sich fein glatt an den Leib anschmiegen, und so springt sie beherzt in's Wasser, -- Der Bräutigam, der alle diese Reize nicht eher als am Hochzeittage zu sehen hoffte, läßt sie schwimmen, eilt nach Hause, hilft selbst anspan- nen, und kehrt über Hals und Kopf ohne Abschied in seine Provinz zurück.
Obige Bemerkungen rühren nicht alle von mir selbst, sondern zum Theil von einem sehr unterrichteten Beob- ter her.
Ein junger Mensch kam aus der Provinz, seine Braut zu besuchen, er fand sie allein mit einem jungen Manne, vor ihr eine Akademie (Gypsstatuͤe), sie nahm, des Zeichnens halber, Unterricht in der Anato- mie. Wir waren eben, sagt der Meister, bei den Mus- keln der Lenden, jetzt wollen wir zum Abdomen uͤber- gehen, und so springt des Maͤdchens Einbildungskraft von Muskel zu Muskel. — Der Braͤutigam fragt nach der Mutter. „O,“ antwortete die Braut, „das ist eine „kleine Libertine, sie hat in voriger Nacht zu viel ge- „walzt.“ — Jetzt ersucht sie den Braͤutigam, sie auf die Reitbahn zu begleiten. Dort schwingt sie sich auf den raschen Gaul und fliegt dahin im sausenden Gallop. Das gute Maͤnnchen aus der Provinz gafft ihr mit off- nem Munde nach.
Von der Reitbahn geht es in die Schwimm- schule (école de natation), hier begiebt sich die holde Braut in ein Kabinet, und erscheint bald darauf in einem weiten Badehemde; aber auch dieß laͤßt sie fallen, und steht da in Weste und Pantalons von Nankin, die sich fein glatt an den Leib anschmiegen, und so springt sie beherzt in's Wasser, — Der Braͤutigam, der alle diese Reize nicht eher als am Hochzeittage zu sehen hoffte, laͤßt sie schwimmen, eilt nach Hause, hilft selbst anspan- nen, und kehrt uͤber Hals und Kopf ohne Abschied in seine Provinz zuruͤck.
Obige Bemerkungen ruͤhren nicht alle von mir selbst, sondern zum Theil von einem sehr unterrichteten Beob- ter her.
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Ein junger Mensch kam aus der Provinz, seine
Braut zu besuchen, er fand sie allein mit einem jungen
Manne, vor ihr eine Akademie (Gypsstatuͤe), sie
nahm, des Zeichnens halber, Unterricht in der Anato-
mie. Wir waren eben, sagt der Meister, bei den Mus-
keln der Lenden, jetzt wollen wir zum Abdomen uͤber-
gehen, und so springt des Maͤdchens Einbildungskraft
von Muskel zu Muskel. — Der Braͤutigam fragt nach
der Mutter. „O,“ antwortete die Braut, „das ist eine
„kleine Libertine, sie hat in voriger Nacht zu viel ge-
„walzt.“ — Jetzt ersucht sie den Braͤutigam, sie auf
die Reitbahn zu begleiten. Dort schwingt sie sich auf
den raschen Gaul und fliegt dahin im sausenden Gallop.
Das gute Maͤnnchen aus der Provinz gafft ihr mit off-
nem Munde nach.
Von der Reitbahn geht es in die Schwimm-
schule (école de natation), hier begiebt sich die holde
Braut in ein Kabinet, und erscheint bald darauf in einem
weiten Badehemde; aber auch dieß laͤßt sie fallen, und
steht da in Weste und Pantalons von Nankin, die sich
fein glatt an den Leib anschmiegen, und so springt sie
beherzt in's Wasser, — Der Braͤutigam, der alle diese
Reize nicht eher als am Hochzeittage zu sehen hoffte,
laͤßt sie schwimmen, eilt nach Hause, hilft selbst anspan-
nen, und kehrt uͤber Hals und Kopf ohne Abschied in
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Die "Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804" von Au… [mehr]
Die "Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804" von August von Kotzebue erschienen 1804 in einer einbändigen Ausgabe im Frölich-Verlag, Berlin. Im gleichen Jahr wurde diese Ausgabe als zweibändige Ausgabe in einem Band im Titel als "unveränderte Auflage" bezeichnet, herausgegeben. Das Deutsche Textarchiv hat den Text der 3. unveränderten Auflage im Rahmen einer Kuration herausgegeben.
Kotzebue, August von: Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804. Bd. 2. Berlin, 1804, S. 182. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kotzebue_erinnerungen02_1804/182>, abgerufen am 16.02.2025.
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