Es wurde dem Massieu offenbar sauer, das Wort zu fin- den. Nach langem Nachsinnen schrieb er: petite volon- te. Sicard billigte Das, gab ihm aber zu verstehen, er müsse den Begriff durch ein einziges Wort ausdrü- cken. Nun war er in großer Verlegenheit, und schrieb endlich an die Tafel: "Jch muß, um dieses Verlangen "zu erfüllen, mir mit dem Lateinischen helfen, und nach "der Analogie desselben ein Wort zu schaffen wagen." Hierauf schrieb er: vellete und vellite, fehlte also nur um einen Buchstaben.
Das letzte starke Kunststück war folgendes: Massieu diktirte durch Zeichen aus einem so eben erschienenen, ihm völlig unbekannten Buche einem andern Taubstummen, der das Diktirte richtig Wort für Wort nachschrieb. Dann wechselten beyde die Rollen mit gleichem Erfolge; und endlich kam ein artiges kleines Mädchen, welches das Nachgeschriebene mit ganz vernehmlicher Stimme von der Tafel ablas. Das einzige e konnte sie nicht aus- sprechen, wenn es Schlußbuchstabe war, weil es alsdann durch die Nase gesprochen wird, und diese Ope- ration, da sie inwendig geschieht, den Taubstummen nicht beygebracht werden kann.
Rührend und merkwürdig war eine Apostrophe Si- card's an die anwesenden Mütter, worinn er sie bath, seine Methode auch auf gesunde Kinder anzuwenden, näm- lich sie Dasjenige, was man sie lehren wolle, gleichsam selbst finden und erfinden zu lassen, weil es die einzige Art sey, ihnen Etwas mit Nutzen und bleibend beyzu- bringen. (Jn der deutschen Erziehungskunst ist diese Methode schon längst eingeführt.) Mehreremal bath Si- card die zahlreich versammelten Damen um Verzeihung, daß er nicht umhin könne, sich oft in die Höhen der Me-
Es wurde dem Massieu offenbar sauer, das Wort zu fin- den. Nach langem Nachsinnen schrieb er: petite volon- té. Sicard billigte Das, gab ihm aber zu verstehen, er muͤsse den Begriff durch ein einziges Wort ausdruͤ- cken. Nun war er in großer Verlegenheit, und schrieb endlich an die Tafel: „Jch muß, um dieses Verlangen „zu erfuͤllen, mir mit dem Lateinischen helfen, und nach „der Analogie desselben ein Wort zu schaffen wagen.“ Hierauf schrieb er: velleté und vellité, fehlte also nur um einen Buchstaben.
Das letzte starke Kunststuͤck war folgendes: Massieu diktirte durch Zeichen aus einem so eben erschienenen, ihm voͤllig unbekannten Buche einem andern Taubstummen, der das Diktirte richtig Wort fuͤr Wort nachschrieb. Dann wechselten beyde die Rollen mit gleichem Erfolge; und endlich kam ein artiges kleines Maͤdchen, welches das Nachgeschriebene mit ganz vernehmlicher Stimme von der Tafel ablas. Das einzige e konnte sie nicht aus- sprechen, wenn es Schlußbuchstabe war, weil es alsdann durch die Nase gesprochen wird, und diese Ope- ration, da sie inwendig geschieht, den Taubstummen nicht beygebracht werden kann.
Ruͤhrend und merkwuͤrdig war eine Apostrophe Si- card's an die anwesenden Muͤtter, worinn er sie bath, seine Methode auch auf gesunde Kinder anzuwenden, naͤm- lich sie Dasjenige, was man sie lehren wolle, gleichsam selbst finden und erfinden zu lassen, weil es die einzige Art sey, ihnen Etwas mit Nutzen und bleibend beyzu- bringen. (Jn der deutschen Erziehungskunst ist diese Methode schon laͤngst eingefuͤhrt.) Mehreremal bath Si- card die zahlreich versammelten Damen um Verzeihung, daß er nicht umhin koͤnne, sich oft in die Hoͤhen der Me-
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Es wurde dem Massieu offenbar sauer, das Wort zu fin-
den. Nach langem Nachsinnen schrieb er: petite volon-
té. Sicard billigte Das, gab ihm aber zu verstehen, er
muͤsse den Begriff durch ein einziges Wort ausdruͤ-
cken. Nun war er in großer Verlegenheit, und schrieb
endlich an die Tafel: „Jch muß, um dieses Verlangen
„zu erfuͤllen, mir mit dem Lateinischen helfen, und nach
„der Analogie desselben ein Wort zu schaffen wagen.“
Hierauf schrieb er: velleté und vellité, fehlte also nur
um einen Buchstaben.
Das letzte starke Kunststuͤck war folgendes: Massieu
diktirte durch Zeichen aus einem so eben erschienenen, ihm
voͤllig unbekannten Buche einem andern Taubstummen,
der das Diktirte richtig Wort fuͤr Wort nachschrieb.
Dann wechselten beyde die Rollen mit gleichem Erfolge;
und endlich kam ein artiges kleines Maͤdchen, welches
das Nachgeschriebene mit ganz vernehmlicher Stimme
von der Tafel ablas. Das einzige e konnte sie nicht aus-
sprechen, wenn es Schlußbuchstabe war, weil es
alsdann durch die Nase gesprochen wird, und diese Ope-
ration, da sie inwendig geschieht, den Taubstummen nicht
beygebracht werden kann.
Ruͤhrend und merkwuͤrdig war eine Apostrophe Si-
card's an die anwesenden Muͤtter, worinn er sie bath,
seine Methode auch auf gesunde Kinder anzuwenden, naͤm-
lich sie Dasjenige, was man sie lehren wolle, gleichsam
selbst finden und erfinden zu lassen, weil es die einzige
Art sey, ihnen Etwas mit Nutzen und bleibend beyzu-
bringen. (Jn der deutschen Erziehungskunst ist diese
Methode schon laͤngst eingefuͤhrt.) Mehreremal bath Si-
card die zahlreich versammelten Damen um Verzeihung,
daß er nicht umhin koͤnne, sich oft in die Hoͤhen der Me-
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Die "Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804" von Au… [mehr]
Die "Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804" von August von Kotzebue erschienen 1804 in einer einbändigen Ausgabe im Frölich-Verlag, Berlin. Im gleichen Jahr wurde diese Ausgabe als zweibändige Ausgabe in einem Band im Titel als "unveränderte Auflage" bezeichnet, herausgegeben. Das Deutsche Textarchiv hat den Text der 3. unveränderten Auflage im Rahmen einer Kuration herausgegeben.
Kotzebue, August von: Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804. Bd. 2. Berlin, 1804, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kotzebue_erinnerungen02_1804/118>, abgerufen am 17.02.2025.
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