machen,) die Hindernisse, welche ihre fehlerhafte Organisation entgegensetzt, die Mittel, sie zu besie- gen. Er zeigte, daß man nicht allein die gewöhnlichen- den Sinnen faßlichen Dinge, sondern auch die aller ab- straktesten Wahrheiten, die Taubstummen lehren könne.
Massieu, sein geistreichster Zögling, ist freylich ein außer- ordentlicher Mensch; und seine tours de force, wenn man es so nennen will, setzen in Erstaunen. Ein Gelehrter unter den Zuhörern prüfte ihn einigemal durch schwere Aufgaben, die er mit bewundernswürdigem Scharfsinne lösete. Er sollte z. B. den Begriff von etre eternel (ewiges Wesen) ausdrücken, da doch der Begriff von etre schon so schwer zu entwickeln ist. Der letztere war ihm indessen schon ge- läufig, und er fand ihn bald. Nun fragte ihn Sicard durch Zeichen, ob es wohl ein etre gäbe, dem diese Be- nennung ganz ausschließlich zukomme? -- Er sann ei- ne Weile, und endlich, wie von einem Blitzstrahle ge- rührt, mit vor Freude funkelnden Augen, schrieb er an die Tafel: Dieu! einen Augenblick nachher setzte er mit einer Art von Triumph hinzu: etre des etres!
Ein anders Mal, da Massieu, von seinem Lehrer geleitet, eben das Wollen (vouloir) mit allen seinen Abtheilungen und Unterabtheilungen analysirte, foderte ein Zuhörer, man soll ihn das Wort velleite finden las- sen. Das Wort ist bekanntlich unübersetzbar, und be- deutet so Viel als Halbwille. Sicard versicherte, er habe-dieß seltene Wort nie diktirt, und Massieu es nie gele- sen; fieng aber gleich sehr bereitwillig an, ihm die Begriffe zu entwickeln, oder vielmehr sie von ihm selbst entwickeln zu lassen, um ihn auf diesen zu führen. Wäre hier Be- trug gewesen, so müßte er sehr fein angelegt, und der Lehrer sowohl als der Zögling große Schauspieler seyn.
machen,) die Hindernisse, welche ihre fehlerhafte Organisation entgegensetzt, die Mittel, sie zu besie- gen. Er zeigte, daß man nicht allein die gewoͤhnlichen- den Sinnen faßlichen Dinge, sondern auch die aller ab- straktesten Wahrheiten, die Taubstummen lehren koͤnne.
Massieu, sein geistreichster Zoͤgling, ist freylich ein außer- ordentlicher Mensch; und seine tours de force, wenn man es so nennen will, setzen in Erstaunen. Ein Gelehrter unter den Zuhoͤrern pruͤfte ihn einigemal durch schwere Aufgaben, die er mit bewundernswuͤrdigem Scharfsinne loͤsete. Er sollte z. B. den Begriff von être éternel (ewiges Wesen) ausdruͤcken, da doch der Begriff von être schon so schwer zu entwickeln ist. Der letztere war ihm indessen schon ge- laͤufig, und er fand ihn bald. Nun fragte ihn Sicard durch Zeichen, ob es wohl ein être gaͤbe, dem diese Be- nennung ganz ausschließlich zukomme? — Er sann ei- ne Weile, und endlich, wie von einem Blitzstrahle ge- ruͤhrt, mit vor Freude funkelnden Augen, schrieb er an die Tafel: Dieu! einen Augenblick nachher setzte er mit einer Art von Triumph hinzu: être des êtres!
Ein anders Mal, da Massieu, von seinem Lehrer geleitet, eben das Wollen (vouloir) mit allen seinen Abtheilungen und Unterabtheilungen analysirte, foderte ein Zuhoͤrer, man soll ihn das Wort velléité finden las- sen. Das Wort ist bekanntlich unuͤbersetzbar, und be- deutet so Viel als Halbwille. Sicard versicherte, er habe-dieß seltene Wort nie diktirt, und Massieu es nie gele- sen; fieng aber gleich sehr bereitwillig an, ihm die Begriffe zu entwickeln, oder vielmehr sie von ihm selbst entwickeln zu lassen, um ihn auf diesen zu fuͤhren. Waͤre hier Be- trug gewesen, so muͤßte er sehr fein angelegt, und der Lehrer sowohl als der Zoͤgling große Schauspieler seyn.
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0117"n="117"/>
machen,) die <hirendition="#g">Hindernisse,</hi> welche ihre fehlerhafte<lb/>
Organisation entgegensetzt, die <hirendition="#g">Mittel,</hi> sie zu besie-<lb/>
gen. Er zeigte, daß man nicht allein die gewoͤhnlichen-<lb/>
den Sinnen faßlichen Dinge, sondern auch die aller ab-<lb/>
straktesten Wahrheiten, die Taubstummen lehren koͤnne.</p><lb/><p>Massieu, sein geistreichster Zoͤgling, ist freylich ein außer-<lb/>
ordentlicher Mensch; und seine tours de force, wenn man<lb/>
es so nennen will, setzen in Erstaunen. Ein Gelehrter unter<lb/>
den Zuhoͤrern pruͤfte ihn einigemal durch schwere Aufgaben,<lb/>
die er mit bewundernswuͤrdigem Scharfsinne loͤsete. Er<lb/>
sollte z. B. den Begriff von être éternel (ewiges Wesen)<lb/>
ausdruͤcken, da doch der Begriff von être schon so schwer<lb/>
zu entwickeln ist. Der letztere war ihm indessen schon ge-<lb/>
laͤufig, und er fand ihn bald. Nun fragte ihn Sicard<lb/>
durch Zeichen, ob es wohl ein être gaͤbe, dem diese Be-<lb/>
nennung ganz ausschließlich zukomme? — Er sann ei-<lb/>
ne Weile, und endlich, wie von einem Blitzstrahle ge-<lb/>
ruͤhrt, mit vor Freude funkelnden Augen, schrieb er an<lb/>
die Tafel: Dieu! einen Augenblick nachher setzte er mit<lb/>
einer Art von Triumph hinzu: être des êtres!</p><lb/><p>Ein anders Mal, da Massieu, von seinem Lehrer<lb/>
geleitet, eben das <hirendition="#g">Wollen</hi> (vouloir) mit allen seinen<lb/>
Abtheilungen und Unterabtheilungen analysirte, foderte<lb/>
ein Zuhoͤrer, man soll ihn das Wort velléité finden <choice><sic>las-<lb/>
len</sic><corr>las-<lb/>
sen</corr></choice>. Das Wort ist bekanntlich unuͤbersetzbar, und be-<lb/>
deutet so Viel als <hirendition="#g">Halbwille.</hi> Sicard versicherte, er<lb/>
habe-dieß seltene Wort nie diktirt, und Massieu es nie gele-<lb/>
sen; fieng aber gleich sehr bereitwillig an, ihm die Begriffe<lb/>
zu entwickeln, oder vielmehr sie von ihm selbst entwickeln<lb/>
zu lassen, um ihn auf diesen zu fuͤhren. Waͤre hier Be-<lb/>
trug gewesen, so muͤßte er sehr fein angelegt, und der<lb/>
Lehrer sowohl als der Zoͤgling große Schauspieler seyn.<lb/></p></div></body></text></TEI>
[117/0117]
machen,) die Hindernisse, welche ihre fehlerhafte
Organisation entgegensetzt, die Mittel, sie zu besie-
gen. Er zeigte, daß man nicht allein die gewoͤhnlichen-
den Sinnen faßlichen Dinge, sondern auch die aller ab-
straktesten Wahrheiten, die Taubstummen lehren koͤnne.
Massieu, sein geistreichster Zoͤgling, ist freylich ein außer-
ordentlicher Mensch; und seine tours de force, wenn man
es so nennen will, setzen in Erstaunen. Ein Gelehrter unter
den Zuhoͤrern pruͤfte ihn einigemal durch schwere Aufgaben,
die er mit bewundernswuͤrdigem Scharfsinne loͤsete. Er
sollte z. B. den Begriff von être éternel (ewiges Wesen)
ausdruͤcken, da doch der Begriff von être schon so schwer
zu entwickeln ist. Der letztere war ihm indessen schon ge-
laͤufig, und er fand ihn bald. Nun fragte ihn Sicard
durch Zeichen, ob es wohl ein être gaͤbe, dem diese Be-
nennung ganz ausschließlich zukomme? — Er sann ei-
ne Weile, und endlich, wie von einem Blitzstrahle ge-
ruͤhrt, mit vor Freude funkelnden Augen, schrieb er an
die Tafel: Dieu! einen Augenblick nachher setzte er mit
einer Art von Triumph hinzu: être des êtres!
Ein anders Mal, da Massieu, von seinem Lehrer
geleitet, eben das Wollen (vouloir) mit allen seinen
Abtheilungen und Unterabtheilungen analysirte, foderte
ein Zuhoͤrer, man soll ihn das Wort velléité finden las-
sen. Das Wort ist bekanntlich unuͤbersetzbar, und be-
deutet so Viel als Halbwille. Sicard versicherte, er
habe-dieß seltene Wort nie diktirt, und Massieu es nie gele-
sen; fieng aber gleich sehr bereitwillig an, ihm die Begriffe
zu entwickeln, oder vielmehr sie von ihm selbst entwickeln
zu lassen, um ihn auf diesen zu fuͤhren. Waͤre hier Be-
trug gewesen, so muͤßte er sehr fein angelegt, und der
Lehrer sowohl als der Zoͤgling große Schauspieler seyn.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Die "Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804" von Au… [mehr]
Die "Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804" von August von Kotzebue erschienen 1804 in einer einbändigen Ausgabe im Frölich-Verlag, Berlin. Im gleichen Jahr wurde diese Ausgabe als zweibändige Ausgabe in einem Band im Titel als "unveränderte Auflage" bezeichnet, herausgegeben. Das Deutsche Textarchiv hat den Text der 3. unveränderten Auflage im Rahmen einer Kuration herausgegeben.
Kotzebue, August von: Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804. Bd. 2. Berlin, 1804, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kotzebue_erinnerungen02_1804/117>, abgerufen am 17.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.