das thut mir fast leid: denn unmöglich kann ein Kupfer- stich diese in die Farben gehauchte Seele nachbilden.
Eine heilige Familie von Raphael, eines seiner frühern Bilder, ist auch eine schöne Blüthe der Ein- bildungskraft, und Davids Belisar eine reife Frucht. Es sind da mehrere kostbare Gemälde aus der italieni- schen Schule, die den Kenner entzücken; aber auch die Neuern hat Lucian nicht verschmäht, und die Nachwelt wird es ihm Dank wissen: denn sie stehen den ältern oft in Nichts nach, als in den Jahren; sie erreichen ihre Vorgänger in der Kunst, und übertreffen sie in poeti- scher Behandlung. -- Da sitzt unter Andern eine alte Frau, eine sogenannte Rentenierinn, das heißt, ei- ne vormals wohlhabende Frau vom Stande, welche durch die Staatsbanqueroute bis zum Betteln heruntergebracht worden ist; dabey scheint sie blind, doch ist sie noch an- ständig gekleidet, ihre Züge verrathen nichts Gemeines; sie sitzt, auf ihren Stab gelehnt, vor einem Hause; vor ihr steht ein herrlicher Knabe, dessen Kleidung auch noch Spuren besserer Zeiten trägt; er ist vermuthlich ihr En- kel. Mit einem kummervollen Gesichte und nassen Au- gen hält er bettelnd seinen Hut den Vorübergehenden hin. Der Hut ist leer, und an dem Hause, an welches die Al- te ihren Rücken lehnt, liest man unter mehreren Anzei- gen von Bällen, Lotterien, Konzerten, auch eine ausge- bothene Belohnung von 25 Louis für einen verlorneu Hund. Dieses Bild, welches herrlich gemalt ist, ent- hält eine blutige Satyre auf die französische Revolution. -- Sehr artig fand ich auch einen Knaben, der beym Lesen eingeschlafen ist, und ein Mädchen, das aus einer Schaale Milch trinken will, von einem Kinde aber zu- rückgehalten wird, daß es nicht zu Viel trinke. Der
das thut mir fast leid: denn unmoͤglich kann ein Kupfer- stich diese in die Farben gehauchte Seele nachbilden.
Eine heilige Familie von Raphael, eines seiner fruͤhern Bilder, ist auch eine schoͤne Bluͤthe der Ein- bildungskraft, und Davids Belisar eine reife Frucht. Es sind da mehrere kostbare Gemaͤlde aus der italieni- schen Schule, die den Kenner entzuͤcken; aber auch die Neuern hat Lucian nicht verschmaͤht, und die Nachwelt wird es ihm Dank wissen: denn sie stehen den aͤltern oft in Nichts nach, als in den Jahren; sie erreichen ihre Vorgaͤnger in der Kunst, und uͤbertreffen sie in poeti- scher Behandlung. — Da sitzt unter Andern eine alte Frau, eine sogenannte Rentenierinn, das heißt, ei- ne vormals wohlhabende Frau vom Stande, welche durch die Staatsbanqueroute bis zum Betteln heruntergebracht worden ist; dabey scheint sie blind, doch ist sie noch an- staͤndig gekleidet, ihre Zuͤge verrathen nichts Gemeines; sie sitzt, auf ihren Stab gelehnt, vor einem Hause; vor ihr steht ein herrlicher Knabe, dessen Kleidung auch noch Spuren besserer Zeiten traͤgt; er ist vermuthlich ihr En- kel. Mit einem kummervollen Gesichte und nassen Au- gen haͤlt er bettelnd seinen Hut den Voruͤbergehenden hin. Der Hut ist leer, und an dem Hause, an welches die Al- te ihren Ruͤcken lehnt, liest man unter mehreren Anzei- gen von Baͤllen, Lotterien, Konzerten, auch eine ausge- bothene Belohnung von 25 Louis fuͤr einen verlorneu Hund. Dieses Bild, welches herrlich gemalt ist, ent- haͤlt eine blutige Satyre auf die franzoͤsische Revolution. — Sehr artig fand ich auch einen Knaben, der beym Lesen eingeschlafen ist, und ein Maͤdchen, das aus einer Schaale Milch trinken will, von einem Kinde aber zu- ruͤckgehalten wird, daß es nicht zu Viel trinke. Der
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das thut mir fast leid: denn unmoͤglich kann ein Kupfer-
stich diese in die Farben gehauchte Seele nachbilden.
Eine heilige Familie von Raphael, eines
seiner fruͤhern Bilder, ist auch eine schoͤne Bluͤthe der Ein-
bildungskraft, und Davids Belisar eine reife Frucht.
Es sind da mehrere kostbare Gemaͤlde aus der italieni-
schen Schule, die den Kenner entzuͤcken; aber auch die
Neuern hat Lucian nicht verschmaͤht, und die Nachwelt
wird es ihm Dank wissen: denn sie stehen den aͤltern oft
in Nichts nach, als in den Jahren; sie erreichen ihre
Vorgaͤnger in der Kunst, und uͤbertreffen sie in poeti-
scher Behandlung. — Da sitzt unter Andern eine alte
Frau, eine sogenannte Rentenierinn, das heißt, ei-
ne vormals wohlhabende Frau vom Stande, welche durch
die Staatsbanqueroute bis zum Betteln heruntergebracht
worden ist; dabey scheint sie blind, doch ist sie noch an-
staͤndig gekleidet, ihre Zuͤge verrathen nichts Gemeines;
sie sitzt, auf ihren Stab gelehnt, vor einem Hause; vor
ihr steht ein herrlicher Knabe, dessen Kleidung auch noch
Spuren besserer Zeiten traͤgt; er ist vermuthlich ihr En-
kel. Mit einem kummervollen Gesichte und nassen Au-
gen haͤlt er bettelnd seinen Hut den Voruͤbergehenden hin.
Der Hut ist leer, und an dem Hause, an welches die Al-
te ihren Ruͤcken lehnt, liest man unter mehreren Anzei-
gen von Baͤllen, Lotterien, Konzerten, auch eine ausge-
bothene Belohnung von 25 Louis fuͤr einen verlorneu
Hund. Dieses Bild, welches herrlich gemalt ist, ent-
haͤlt eine blutige Satyre auf die franzoͤsische Revolution.
— Sehr artig fand ich auch einen Knaben, der beym
Lesen eingeschlafen ist, und ein Maͤdchen, das aus einer
Schaale Milch trinken will, von einem Kinde aber zu-
ruͤckgehalten wird, daß es nicht zu Viel trinke. Der
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Die "Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804" von Au… [mehr]
Die "Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804" von August von Kotzebue erschienen 1804 in einer einbändigen Ausgabe im Frölich-Verlag, Berlin. Im gleichen Jahr wurde diese Ausgabe als zweibändige Ausgabe in einem Band im Titel als "unveränderte Auflage" bezeichnet, herausgegeben. Das Deutsche Textarchiv hat den Text der 3. unveränderten Auflage im Rahmen einer Kuration herausgegeben.
Kotzebue, August von: Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804. Bd. 2. Berlin, 1804, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kotzebue_erinnerungen02_1804/111>, abgerufen am 17.02.2025.
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