er das Kind gleich nach Haus tragen und wärmen sollte. Drei oder viermal wiederholte er diese Bedingung, und ließ sich die Erfüllung derselben eben so oft von dem Kna- ben versprechen. Dann gieng er. Jndem er sich umwen- dete, stieß er auf mich. "Sie sind gewiß Vater?" rede- te ich ihn an. Oui, Monsieur! antwortete er ziemlich barsch und eilte davon. Jch blieb noch eine Weile und gab acht, ob der Knabe seine kleinen Geschwister verspro- chenermaßen heimführen werde? Er that es nicht. -- Daß übrigens die Polizei dieses Schauspiel viele Wochen hin- tereinander duldete, gefällt mir nicht. Fast scheint es mir unmöglich, daß die armen Kinder den Winter hindurch ge- sund bleiben können.
Eigentlich angebettelt wird man in Paris selten oder nie. Nur dann und wann hört man ein: Monsieur, je meurs de faim! (Mein Herr, ich sterbe vor Hunger) hin- ter sich her flüstern. Gewöhnlich sucht jeder Arme sich ei- ne Art von gültigem Anspruch auf eine Gabe zu verschaf- fen. Der Eine läuft, mit dem Besen in der Hand, wenn Sie eben durch eine schmutzige Stelle gehen wollen, und fegt Jhnen schnell einen Fußsteig rein; der Andere benutzt einen Platzregen, der die Mitte der Straße mit Wasser füllt, legt ein bequemes Brett darüber und steht freund- lich helfend daneben. Nach den Kleidern beurtheilt er die- jenigen, die ihm etwas geben können oder sollen; alle die er für arm hält, läßt er ungehindert passiren, und hüb- schen Mädchen hilft er noch obendarein galant hinüber.
Doch es regnet ja jetzt nicht, und ich vergesse, daß wir spazieren gehen, um das Straßengetümmel zu beob- achten. -- Sollte man nicht Wunder denken, was in je- nem dichten Kreise von Menschen Merkwürdiges vorgehe? Ein alter Kerl, vielleicht ein verdorbener Seiltänzer, hat
er das Kind gleich nach Haus tragen und waͤrmen sollte. Drei oder viermal wiederholte er diese Bedingung, und ließ sich die Erfuͤllung derselben eben so oft von dem Kna- ben versprechen. Dann gieng er. Jndem er sich umwen- dete, stieß er auf mich. „Sie sind gewiß Vater?“ rede- te ich ihn an. Oui, Monsieur! antwortete er ziemlich barsch und eilte davon. Jch blieb noch eine Weile und gab acht, ob der Knabe seine kleinen Geschwister verspro- chenermaßen heimfuͤhren werde? Er that es nicht. — Daß uͤbrigens die Polizei dieses Schauspiel viele Wochen hin- tereinander duldete, gefaͤllt mir nicht. Fast scheint es mir unmoͤglich, daß die armen Kinder den Winter hindurch ge- sund bleiben koͤnnen.
Eigentlich angebettelt wird man in Paris selten oder nie. Nur dann und wann hoͤrt man ein: Monsieur, je meurs de faim! (Mein Herr, ich sterbe vor Hunger) hin- ter sich her fluͤstern. Gewoͤhnlich sucht jeder Arme sich ei- ne Art von guͤltigem Anspruch auf eine Gabe zu verschaf- fen. Der Eine laͤuft, mit dem Besen in der Hand, wenn Sie eben durch eine schmutzige Stelle gehen wollen, und fegt Jhnen schnell einen Fußsteig rein; der Andere benutzt einen Platzregen, der die Mitte der Straße mit Wasser fuͤllt, legt ein bequemes Brett daruͤber und steht freund- lich helfend daneben. Nach den Kleidern beurtheilt er die- jenigen, die ihm etwas geben koͤnnen oder sollen; alle die er fuͤr arm haͤlt, laͤßt er ungehindert passiren, und huͤb- schen Maͤdchen hilft er noch obendarein galant hinuͤber.
Doch es regnet ja jetzt nicht, und ich vergesse, daß wir spazieren gehen, um das Straßengetuͤmmel zu beob- achten. — Sollte man nicht Wunder denken, was in je- nem dichten Kreise von Menschen Merkwuͤrdiges vorgehe? Ein alter Kerl, vielleicht ein verdorbener Seiltaͤnzer, hat
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[61/0065]
er das Kind gleich nach Haus tragen und waͤrmen sollte.
Drei oder viermal wiederholte er diese Bedingung, und
ließ sich die Erfuͤllung derselben eben so oft von dem Kna-
ben versprechen. Dann gieng er. Jndem er sich umwen-
dete, stieß er auf mich. „Sie sind gewiß Vater?“ rede-
te ich ihn an. Oui, Monsieur! antwortete er ziemlich
barsch und eilte davon. Jch blieb noch eine Weile und
gab acht, ob der Knabe seine kleinen Geschwister verspro-
chenermaßen heimfuͤhren werde? Er that es nicht. — Daß
uͤbrigens die Polizei dieses Schauspiel viele Wochen hin-
tereinander duldete, gefaͤllt mir nicht. Fast scheint es mir
unmoͤglich, daß die armen Kinder den Winter hindurch ge-
sund bleiben koͤnnen.
Eigentlich angebettelt wird man in Paris selten oder
nie. Nur dann und wann hoͤrt man ein: Monsieur, je
meurs de faim! (Mein Herr, ich sterbe vor Hunger) hin-
ter sich her fluͤstern. Gewoͤhnlich sucht jeder Arme sich ei-
ne Art von guͤltigem Anspruch auf eine Gabe zu verschaf-
fen. Der Eine laͤuft, mit dem Besen in der Hand, wenn
Sie eben durch eine schmutzige Stelle gehen wollen, und
fegt Jhnen schnell einen Fußsteig rein; der Andere benutzt
einen Platzregen, der die Mitte der Straße mit Wasser
fuͤllt, legt ein bequemes Brett daruͤber und steht freund-
lich helfend daneben. Nach den Kleidern beurtheilt er die-
jenigen, die ihm etwas geben koͤnnen oder sollen; alle die
er fuͤr arm haͤlt, laͤßt er ungehindert passiren, und huͤb-
schen Maͤdchen hilft er noch obendarein galant hinuͤber.
Doch es regnet ja jetzt nicht, und ich vergesse, daß
wir spazieren gehen, um das Straßengetuͤmmel zu beob-
achten. — Sollte man nicht Wunder denken, was in je-
nem dichten Kreise von Menschen Merkwuͤrdiges vorgehe?
Ein alter Kerl, vielleicht ein verdorbener Seiltaͤnzer, hat
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Die "Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804" von Au… [mehr]
Die "Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804" von August von Kotzebue erschienen 1804 in einer einbändigen Ausgabe im Frölich-Verlag, Berlin. Im gleichen Jahr wurde diese Ausgabe als zweibändige Ausgabe in einem Band im Titel als "unveränderte Auflage" bezeichnet, herausgegeben. Das Deutsche Textarchiv hat den Text der 3. unveränderten Auflage im Rahmen einer Kuration herausgegeben.
Kotzebue, August von: Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804. Bd. 1. Berlin, 1804, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kotzebue_erinnerungen01_1804/65>, abgerufen am 16.02.2025.
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