unterstützt; aber seit anderthalb Jahren erhält sie auch von dort nichts mehr. Da sie nun nicht bettelt, son- dern nur so still da sitzt, so wird ihre Jammergestalt oft übersehen, und sie erhält wenig. Jm Gespräche ist sie etwas weitläuftig; aber sie erzählt gut und zusammenhän- gend, und die Frau von Erziehung ist ihr sogleich anzu- merken. Was man ihr giebt, nimmt sie mit verschäm- tem Anstand, und dankt herzlich ohne Kriecherei. Jhr Wunsch zu sterben, ihr Gebet um den Tod sind äußerst rührend. -- O, wie gern will ich dem Posthalter verzei- hen, daß seine Pferde auf dem Acker waren, und ich über die Gebühr bei ihm aushalten mußte, wenn diese kurze und schmucklose Erzählung die Veranlassung wird, daß gefühlvolle Menschen, die des Weges reisen oder nicht rei- sen, die arme blinde Frau unterstützen! Lange wird sie ihren Wohlthätern ja ohnehin nicht zur Last fallen; bald wird Freund Hayn ihren sehnlichen Wunsch erfüllen, und sie sanft zu ihrem Gatten, zu ihren Kindern geleiten. --
Große Armuth und mehr Aufklärung unter dem Landvolke, als nöthig ist, hat der Krieg in dieser Gegend hinterlassen. Häufige Bettelei zeigt von jener; ein Ge- spräch zwischen zwei Bauern, die bei Wein und Käse sa- ßen, mag von dieser zeigen. Seit dem unseligen Kriege, sagte der eine, sey es viermal schlechter zu leben, als vor- her; die Menschen wären gar nicht mehr dieselben, kei- ner helfe dem andern, jeder denke nur an sich. (Ja wohl ist der krasseste Egoismus ein Zeichen unserer Zeit!)
Neckargmünd.
Als ich durch das Thor dieses Städtchens fuhr; hat- te ich von neuem Gelegenheit, einen alten Wunsch zu wie- derholen, daß nehmlich doch alle diejenigen, welche öffent-
unterstuͤtzt; aber seit anderthalb Jahren erhaͤlt sie auch von dort nichts mehr. Da sie nun nicht bettelt, son- dern nur so still da sitzt, so wird ihre Jammergestalt oft uͤbersehen, und sie erhaͤlt wenig. Jm Gespraͤche ist sie etwas weitlaͤuftig; aber sie erzaͤhlt gut und zusammenhaͤn- gend, und die Frau von Erziehung ist ihr sogleich anzu- merken. Was man ihr giebt, nimmt sie mit verschaͤm- tem Anstand, und dankt herzlich ohne Kriecherei. Jhr Wunsch zu sterben, ihr Gebet um den Tod sind aͤußerst ruͤhrend. — O, wie gern will ich dem Posthalter verzei- hen, daß seine Pferde auf dem Acker waren, und ich uͤber die Gebuͤhr bei ihm aushalten mußte, wenn diese kurze und schmucklose Erzaͤhlung die Veranlassung wird, daß gefuͤhlvolle Menschen, die des Weges reisen oder nicht rei- sen, die arme blinde Frau unterstuͤtzen! Lange wird sie ihren Wohlthaͤtern ja ohnehin nicht zur Last fallen; bald wird Freund Hayn ihren sehnlichen Wunsch erfuͤllen, und sie sanft zu ihrem Gatten, zu ihren Kindern geleiten. —
Große Armuth und mehr Aufklaͤrung unter dem Landvolke, als noͤthig ist, hat der Krieg in dieser Gegend hinterlassen. Haͤufige Bettelei zeigt von jener; ein Ge- spraͤch zwischen zwei Bauern, die bei Wein und Kaͤse sa- ßen, mag von dieser zeigen. Seit dem unseligen Kriege, sagte der eine, sey es viermal schlechter zu leben, als vor- her; die Menschen waͤren gar nicht mehr dieselben, kei- ner helfe dem andern, jeder denke nur an sich. (Ja wohl ist der krasseste Egoismus ein Zeichen unserer Zeit!)
Neckargmuͤnd.
Als ich durch das Thor dieses Staͤdtchens fuhr; hat- te ich von neuem Gelegenheit, einen alten Wunsch zu wie- derholen, daß nehmlich doch alle diejenigen, welche oͤffent-
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0023"n="19"/>
unterstuͤtzt; aber seit anderthalb Jahren erhaͤlt sie auch<lb/>
von dort <hirendition="#g">nichts mehr.</hi> Da sie nun nicht bettelt, son-<lb/>
dern nur so still da sitzt, so wird ihre Jammergestalt oft<lb/>
uͤbersehen, und sie erhaͤlt wenig. Jm Gespraͤche ist sie<lb/>
etwas weitlaͤuftig; aber sie erzaͤhlt gut und zusammenhaͤn-<lb/>
gend, und die Frau von Erziehung ist ihr sogleich anzu-<lb/>
merken. Was man ihr giebt, nimmt sie mit verschaͤm-<lb/>
tem Anstand, und dankt herzlich ohne Kriecherei. Jhr<lb/>
Wunsch zu sterben, ihr Gebet um den Tod sind aͤußerst<lb/>
ruͤhrend. — O, wie gern will ich dem Posthalter verzei-<lb/>
hen, daß seine Pferde auf dem Acker waren, und ich uͤber<lb/>
die Gebuͤhr bei ihm aushalten mußte, wenn diese kurze<lb/>
und schmucklose Erzaͤhlung die Veranlassung wird, daß<lb/>
gefuͤhlvolle Menschen, die des Weges reisen oder nicht rei-<lb/>
sen, die arme blinde Frau unterstuͤtzen! Lange wird sie<lb/>
ihren Wohlthaͤtern ja ohnehin nicht zur Last fallen; bald<lb/>
wird Freund Hayn ihren sehnlichen Wunsch erfuͤllen, und<lb/>
sie sanft zu ihrem Gatten, zu ihren Kindern geleiten. —</p><lb/><p>Große <hirendition="#g">Armuth</hi> und mehr <hirendition="#g">Aufklaͤrung</hi> unter dem<lb/>
Landvolke, als noͤthig ist, hat der Krieg in dieser Gegend<lb/>
hinterlassen. Haͤufige Bettelei zeigt von jener; ein Ge-<lb/>
spraͤch zwischen zwei Bauern, die bei Wein und Kaͤse sa-<lb/>
ßen, mag von dieser zeigen. Seit dem unseligen Kriege,<lb/>
sagte der eine, sey es viermal schlechter zu leben, als vor-<lb/>
her; die Menschen waͤren gar nicht mehr dieselben, kei-<lb/>
ner helfe dem andern, jeder denke nur an sich. (Ja wohl<lb/>
ist der krasseste Egoismus ein Zeichen unserer Zeit!)</p><lb/><p>Neckargmuͤnd.</p><lb/><p>Als ich durch das Thor dieses Staͤdtchens fuhr; hat-<lb/>
te ich von neuem Gelegenheit, einen alten Wunsch zu wie-<lb/>
derholen, daß nehmlich doch alle diejenigen, welche <hirendition="#g">oͤffent-<lb/></hi></p></div></body></text></TEI>
[19/0023]
unterstuͤtzt; aber seit anderthalb Jahren erhaͤlt sie auch
von dort nichts mehr. Da sie nun nicht bettelt, son-
dern nur so still da sitzt, so wird ihre Jammergestalt oft
uͤbersehen, und sie erhaͤlt wenig. Jm Gespraͤche ist sie
etwas weitlaͤuftig; aber sie erzaͤhlt gut und zusammenhaͤn-
gend, und die Frau von Erziehung ist ihr sogleich anzu-
merken. Was man ihr giebt, nimmt sie mit verschaͤm-
tem Anstand, und dankt herzlich ohne Kriecherei. Jhr
Wunsch zu sterben, ihr Gebet um den Tod sind aͤußerst
ruͤhrend. — O, wie gern will ich dem Posthalter verzei-
hen, daß seine Pferde auf dem Acker waren, und ich uͤber
die Gebuͤhr bei ihm aushalten mußte, wenn diese kurze
und schmucklose Erzaͤhlung die Veranlassung wird, daß
gefuͤhlvolle Menschen, die des Weges reisen oder nicht rei-
sen, die arme blinde Frau unterstuͤtzen! Lange wird sie
ihren Wohlthaͤtern ja ohnehin nicht zur Last fallen; bald
wird Freund Hayn ihren sehnlichen Wunsch erfuͤllen, und
sie sanft zu ihrem Gatten, zu ihren Kindern geleiten. —
Große Armuth und mehr Aufklaͤrung unter dem
Landvolke, als noͤthig ist, hat der Krieg in dieser Gegend
hinterlassen. Haͤufige Bettelei zeigt von jener; ein Ge-
spraͤch zwischen zwei Bauern, die bei Wein und Kaͤse sa-
ßen, mag von dieser zeigen. Seit dem unseligen Kriege,
sagte der eine, sey es viermal schlechter zu leben, als vor-
her; die Menschen waͤren gar nicht mehr dieselben, kei-
ner helfe dem andern, jeder denke nur an sich. (Ja wohl
ist der krasseste Egoismus ein Zeichen unserer Zeit!)
Neckargmuͤnd.
Als ich durch das Thor dieses Staͤdtchens fuhr; hat-
te ich von neuem Gelegenheit, einen alten Wunsch zu wie-
derholen, daß nehmlich doch alle diejenigen, welche oͤffent-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Die "Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804" von Au… [mehr]
Die "Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804" von August von Kotzebue erschienen 1804 in einer einbändigen Ausgabe im Frölich-Verlag, Berlin. Im gleichen Jahr wurde diese Ausgabe als zweibändige Ausgabe in einem Band im Titel als "unveränderte Auflage" bezeichnet, herausgegeben. Das Deutsche Textarchiv hat den Text der 3. unveränderten Auflage im Rahmen einer Kuration herausgegeben.
Kotzebue, August von: Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804. Bd. 1. Berlin, 1804, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kotzebue_erinnerungen01_1804/23>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.