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Kotzebue, August von: Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804. Bd. 1. Berlin, 1804.

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Mauren.

Man kann in der Geographie ziemlich bewandert seyn,
ohne eben dieß Städtchen oder Dorf (ich erinnere mich
nicht recht, was es eigentlich war) zu kennen. Es ist
die erste Station zwischen Heidelberg und Stuttgart, und
ist mir bloß durch eine alte unglückliche Frau merkwürdig
geworden. Jch zähle es unter die schönsten Vorrechte ei-
nes vielgelesenen Schriftstellers, daß er dann und wann,
durch ein Wort zu rechter Zeit gesprochen, das Elend aus
den finstern Winkeln hervorziehen, und in die milden
Strahlen des Mitleids stellen kann. Als ich in die Stu-
be des Posthauses trat, sah ich ein achtzigjähriges blin-
des Mütterchen am Ofen sitzen, das ein Stück Brod müh-
sam im Munde zerdrückte und ein kleines Glas Wein da-
bei trank; neben ihr stand eine Krücke. Jn ihrer Jugend
mußte die Frau schön gewesen seyn: ihre noch immer ein-
nehmende Physiognomie und der stille Gram, der darüber
schwebte, machten sie mir interessant. Jch fragte die Post-
halterin, ob es ihre Mutter sey? Ach nein, versetzte die-
se; es ist eine sehr arme blinde Frau, die sich von frem-
den Wohlthaten nähren muß, und dann und wann zu
uns kommt; wir thun dann an ihr, was wir können. --
"Aber sie bettelt ja nicht." -- Nein, betteln thut sie nie;
wer sie kennt, giebt ihr. -- Jch näherte mich der Alten:
Sind Sie schon lange blind? hob ich an. -- Noch vor
Kurzem, sagte sie, habe sie einen Schimmer gehabt,
jetzt sey auch der verschwunden, und sie könne noch immer
nicht sterben. -- Trotz dem Antheil, den ich an ihr zu
nehmen schien, bettelte sie doch nicht. Das rührte mich;
ein Wort gab das andere: sie erzählte mir ihre traurige
Geschichte. Sie war im Hannöverischen an einen Predi-
ger verheirathet, hatte liebe Kinder, und lebte glücklich.

Mauren.

Man kann in der Geographie ziemlich bewandert seyn,
ohne eben dieß Staͤdtchen oder Dorf (ich erinnere mich
nicht recht, was es eigentlich war) zu kennen. Es ist
die erste Station zwischen Heidelberg und Stuttgart, und
ist mir bloß durch eine alte ungluͤckliche Frau merkwuͤrdig
geworden. Jch zaͤhle es unter die schoͤnsten Vorrechte ei-
nes vielgelesenen Schriftstellers, daß er dann und wann,
durch ein Wort zu rechter Zeit gesprochen, das Elend aus
den finstern Winkeln hervorziehen, und in die milden
Strahlen des Mitleids stellen kann. Als ich in die Stu-
be des Posthauses trat, sah ich ein achtzigjaͤhriges blin-
des Muͤtterchen am Ofen sitzen, das ein Stuͤck Brod muͤh-
sam im Munde zerdruͤckte und ein kleines Glas Wein da-
bei trank; neben ihr stand eine Kruͤcke. Jn ihrer Jugend
mußte die Frau schoͤn gewesen seyn: ihre noch immer ein-
nehmende Physiognomie und der stille Gram, der daruͤber
schwebte, machten sie mir interessant. Jch fragte die Post-
halterin, ob es ihre Mutter sey? Ach nein, versetzte die-
se; es ist eine sehr arme blinde Frau, die sich von frem-
den Wohlthaten naͤhren muß, und dann und wann zu
uns kommt; wir thun dann an ihr, was wir koͤnnen. —
„Aber sie bettelt ja nicht.“ — Nein, betteln thut sie nie;
wer sie kennt, giebt ihr. — Jch naͤherte mich der Alten:
Sind Sie schon lange blind? hob ich an. — Noch vor
Kurzem, sagte sie, habe sie einen Schimmer gehabt,
jetzt sey auch der verschwunden, und sie koͤnne noch immer
nicht sterben. — Trotz dem Antheil, den ich an ihr zu
nehmen schien, bettelte sie doch nicht. Das ruͤhrte mich;
ein Wort gab das andere: sie erzaͤhlte mir ihre traurige
Geschichte. Sie war im Hannoͤverischen an einen Predi-
ger verheirathet, hatte liebe Kinder, und lebte gluͤcklich.

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[17/0021] Mauren. Man kann in der Geographie ziemlich bewandert seyn, ohne eben dieß Staͤdtchen oder Dorf (ich erinnere mich nicht recht, was es eigentlich war) zu kennen. Es ist die erste Station zwischen Heidelberg und Stuttgart, und ist mir bloß durch eine alte ungluͤckliche Frau merkwuͤrdig geworden. Jch zaͤhle es unter die schoͤnsten Vorrechte ei- nes vielgelesenen Schriftstellers, daß er dann und wann, durch ein Wort zu rechter Zeit gesprochen, das Elend aus den finstern Winkeln hervorziehen, und in die milden Strahlen des Mitleids stellen kann. Als ich in die Stu- be des Posthauses trat, sah ich ein achtzigjaͤhriges blin- des Muͤtterchen am Ofen sitzen, das ein Stuͤck Brod muͤh- sam im Munde zerdruͤckte und ein kleines Glas Wein da- bei trank; neben ihr stand eine Kruͤcke. Jn ihrer Jugend mußte die Frau schoͤn gewesen seyn: ihre noch immer ein- nehmende Physiognomie und der stille Gram, der daruͤber schwebte, machten sie mir interessant. Jch fragte die Post- halterin, ob es ihre Mutter sey? Ach nein, versetzte die- se; es ist eine sehr arme blinde Frau, die sich von frem- den Wohlthaten naͤhren muß, und dann und wann zu uns kommt; wir thun dann an ihr, was wir koͤnnen. — „Aber sie bettelt ja nicht.“ — Nein, betteln thut sie nie; wer sie kennt, giebt ihr. — Jch naͤherte mich der Alten: Sind Sie schon lange blind? hob ich an. — Noch vor Kurzem, sagte sie, habe sie einen Schimmer gehabt, jetzt sey auch der verschwunden, und sie koͤnne noch immer nicht sterben. — Trotz dem Antheil, den ich an ihr zu nehmen schien, bettelte sie doch nicht. Das ruͤhrte mich; ein Wort gab das andere: sie erzaͤhlte mir ihre traurige Geschichte. Sie war im Hannoͤverischen an einen Predi- ger verheirathet, hatte liebe Kinder, und lebte gluͤcklich.

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Zitationshilfe: Kotzebue, August von: Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804. Bd. 1. Berlin, 1804, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kotzebue_erinnerungen01_1804/21>, abgerufen am 27.11.2024.