die Stirne küßte; die mütterliche Gutmüthigkeit, mit der sie es zum Essen nöthigte, und das übrige Zucker- werk ihm in die Taschen pfropfte; der unarticulierte Dank, den das Kind auf eine höchst seltsame, aber rührende Weise, durch eine Art von Geschrei ausdrück- te: -- von alle dem war doch wahrlich nichts erkün- stelt, und von solchen Scenen bin ich ja nicht etwa nur Einmal Zeuge gewesen. --
Wenn die Neider der lieblichen Frau verzweifeln müssen, daß der Angriff auf ihre Sittlichkeit und Tugend gelingen werde, so suchen sie durch ein Ach- selzucken ihren Geist herabzuwürdigen. Freylich, wenn nur das Frauenzimmer geistvoll genannt werden kann, was die Philosophie eben so fertig handhabet, als eine Sticknadel, über die Kunst in Floskeln schwatzt, über alle neuern Produkte der schönern Literatur ohne Beden- ken abspricht, verdienstvollen Männern über den Mund fährt und für Secten Parthei nimmt, freylich, dann ist Madame Recamier kein geistvolles Frauenzimmer. Sie gehört nicht zu den Damen, die sich hervordrän- gen, Fahnen unter die verschiedenen Volontair- Corps austheilen, unter welchen sie doch selbst nicht mitfechten können. Wenn aber ein gesunder Verstand, eine vor- urtheilsfreie Vernunft, ein reines Gefühl für alles Edle und Schöne, es komme woher und von wem es wolle, ein williges Hingeben an die schönen Wahrhei- ten der Natur und an die lieblichen Täuschungen der Kunst, wenn alles dies einem Frauenzimmer Anspruch auf Geist giebt, so ist Madame Recamier eine sehr geistrei- che Frau, und wollte der Himmel, es gäbe zum häuslichen Glück aller Ehemänner, und zum Vortheil der weiblichen Liebenswürdigkeit überhaupt, nie geistreichere Frauen.
die Stirne kuͤßte; die muͤtterliche Gutmuͤthigkeit, mit der sie es zum Essen noͤthigte, und das uͤbrige Zucker- werk ihm in die Taschen pfropfte; der unarticulierte Dank, den das Kind auf eine hoͤchst seltsame, aber ruͤhrende Weise, durch eine Art von Geschrei ausdruͤck- te: — von alle dem war doch wahrlich nichts erkuͤn- stelt, und von solchen Scenen bin ich ja nicht etwa nur Einmal Zeuge gewesen. —
Wenn die Neider der lieblichen Frau verzweifeln muͤssen, daß der Angriff auf ihre Sittlichkeit und Tugend gelingen werde, so suchen sie durch ein Ach- selzucken ihren Geist herabzuwuͤrdigen. Freylich, wenn nur das Frauenzimmer geistvoll genannt werden kann, was die Philosophie eben so fertig handhabet, als eine Sticknadel, uͤber die Kunst in Floskeln schwatzt, uͤber alle neuern Produkte der schoͤnern Literatur ohne Beden- ken abspricht, verdienstvollen Maͤnnern uͤber den Mund faͤhrt und fuͤr Secten Parthei nimmt, freylich, dann ist Madame Recamier kein geistvolles Frauenzimmer. Sie gehoͤrt nicht zu den Damen, die sich hervordraͤn- gen, Fahnen unter die verschiedenen Volontair- Corps austheilen, unter welchen sie doch selbst nicht mitfechten koͤnnen. Wenn aber ein gesunder Verstand, eine vor- urtheilsfreie Vernunft, ein reines Gefuͤhl fuͤr alles Edle und Schoͤne, es komme woher und von wem es wolle, ein williges Hingeben an die schoͤnen Wahrhei- ten der Natur und an die lieblichen Taͤuschungen der Kunst, wenn alles dies einem Frauenzimmer Anspruch auf Geist giebt, so ist Madame Recamier eine sehr geistrei- che Frau, und wollte der Himmel, es gaͤbe zum haͤuslichen Gluͤck aller Ehemaͤnner, und zum Vortheil der weiblichen Liebenswuͤrdigkeit uͤberhaupt, nie geistreichere Frauen.
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die Stirne kuͤßte; die muͤtterliche Gutmuͤthigkeit, mit
der sie es zum Essen noͤthigte, und das uͤbrige Zucker-
werk ihm in die Taschen pfropfte; der unarticulierte
Dank, den das Kind auf eine hoͤchst seltsame, aber
ruͤhrende Weise, durch eine Art von Geschrei ausdruͤck-
te: — von alle dem war doch wahrlich nichts erkuͤn-
stelt, und von solchen Scenen bin ich ja nicht etwa
nur Einmal Zeuge gewesen. —
Wenn die Neider der lieblichen Frau verzweifeln
muͤssen, daß der Angriff auf ihre Sittlichkeit und
Tugend gelingen werde, so suchen sie durch ein Ach-
selzucken ihren Geist herabzuwuͤrdigen. Freylich, wenn
nur das Frauenzimmer geistvoll genannt werden kann,
was die Philosophie eben so fertig handhabet, als eine
Sticknadel, uͤber die Kunst in Floskeln schwatzt, uͤber
alle neuern Produkte der schoͤnern Literatur ohne Beden-
ken abspricht, verdienstvollen Maͤnnern uͤber den Mund
faͤhrt und fuͤr Secten Parthei nimmt, freylich, dann
ist Madame Recamier kein geistvolles Frauenzimmer.
Sie gehoͤrt nicht zu den Damen, die sich hervordraͤn-
gen, Fahnen unter die verschiedenen Volontair- Corps
austheilen, unter welchen sie doch selbst nicht mitfechten
koͤnnen. Wenn aber ein gesunder Verstand, eine vor-
urtheilsfreie Vernunft, ein reines Gefuͤhl fuͤr alles
Edle und Schoͤne, es komme woher und von wem es
wolle, ein williges Hingeben an die schoͤnen Wahrhei-
ten der Natur und an die lieblichen Taͤuschungen der
Kunst, wenn alles dies einem Frauenzimmer Anspruch
auf Geist giebt, so ist Madame Recamier eine sehr geistrei-
che Frau, und wollte der Himmel, es gaͤbe zum haͤuslichen
Gluͤck aller Ehemaͤnner, und zum Vortheil der weiblichen
Liebenswuͤrdigkeit uͤberhaupt, nie geistreichere Frauen.
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Die "Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804" von Au… [mehr]
Die "Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804" von August von Kotzebue erschienen 1804 in einer einbändigen Ausgabe im Frölich-Verlag, Berlin. Im gleichen Jahr wurde diese Ausgabe als zweibändige Ausgabe in einem Band im Titel als "unveränderte Auflage" bezeichnet, herausgegeben. Das Deutsche Textarchiv hat den Text der 3. unveränderten Auflage im Rahmen einer Kuration herausgegeben.
Kotzebue, August von: Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804. Bd. 1. Berlin, 1804, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kotzebue_erinnerungen01_1804/118>, abgerufen am 08.07.2024.
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