man blos aus ihren guten Handlungen auf ihre Fröm- migkeit schließen dürfen. Jeden Tag bezeichnet sie durch Wohlthaten. Jch weiß wohl, daß man reichen Leuten eine Gabe, und selbst ansehnliche Gaben, eben nicht zum Verdienst rechnen darf; nicht die Wohlthat selbst, sondern die Art, wie sie von ihnen erzeigt wird, macht ihr Verdienst aus, und gerade hier ist es, wo ich Ma- dame Recamier unaussprechlich edel und liebenswürdig gefunden habe. Daß sie mit ihrer Wohlthätigkeit in meiner Gegenwart nur habe prunken wollen, (wie zu- weilen der Neid mir eingewendet) ist schon deshalb un- möglich, weil ich zu jeder Stunde des Tages Zutritt bei ihr hatte, und oft ein sehr unerwarteter Zeuge ihrer Handlungen war.
Nie werde ich den schönen Morgen vergessen, an dem ich sie ganz allein in Gesellschaft eines kleinen taub- stummen Mädchens fand, das sie, Gott weiß in welchem Dorfe, bei einer Spazierfahrt aufgelesen hatte. Eine Zeitlang war das Kind auf ihre Kosten erzogen worden, dann hatte sie durch ihr Vorwort ihm eine Stelle in dem trefflichen Jnstitut des edeln Sicard ver- schafft; eben jetzt war das Mädchen neu gekleidet zu ihr geführt worden, um von ihr selbst zu Sicard ge- bracht zu werden. Sie hatte dem Kinde ein Frühstück auftragen lassen, welches zufällig in dem schönen Ge- sellschaftssaal, auf einem Marmortische, unweit eines Spiegels geschehen war, in dem die Kleine sich ganz sehen konnte, und vermuthlich sich so zum erstenmal sah. Das rührende Ergötzen ihrer reizenden Wohlthä- terinn an dem freudigen Erstaunen des Kindes, das be- thränte Lächeln, mit dem sie dem Kinde die Haare aus dem Gesichte strich, und es von Zeit zu Zeit auf
man blos aus ihren guten Handlungen auf ihre Froͤm- migkeit schließen duͤrfen. Jeden Tag bezeichnet sie durch Wohlthaten. Jch weiß wohl, daß man reichen Leuten eine Gabe, und selbst ansehnliche Gaben, eben nicht zum Verdienst rechnen darf; nicht die Wohlthat selbst, sondern die Art, wie sie von ihnen erzeigt wird, macht ihr Verdienst aus, und gerade hier ist es, wo ich Ma- dame Recamier unaussprechlich edel und liebenswuͤrdig gefunden habe. Daß sie mit ihrer Wohlthaͤtigkeit in meiner Gegenwart nur habe prunken wollen, (wie zu- weilen der Neid mir eingewendet) ist schon deshalb un- moͤglich, weil ich zu jeder Stunde des Tages Zutritt bei ihr hatte, und oft ein sehr unerwarteter Zeuge ihrer Handlungen war.
Nie werde ich den schoͤnen Morgen vergessen, an dem ich sie ganz allein in Gesellschaft eines kleinen taub- stummen Maͤdchens fand, das sie, Gott weiß in welchem Dorfe, bei einer Spazierfahrt aufgelesen hatte. Eine Zeitlang war das Kind auf ihre Kosten erzogen worden, dann hatte sie durch ihr Vorwort ihm eine Stelle in dem trefflichen Jnstitut des edeln Sicard ver- schafft; eben jetzt war das Maͤdchen neu gekleidet zu ihr gefuͤhrt worden, um von ihr selbst zu Sicard ge- bracht zu werden. Sie hatte dem Kinde ein Fruͤhstuͤck auftragen lassen, welches zufaͤllig in dem schoͤnen Ge- sellschaftssaal, auf einem Marmortische, unweit eines Spiegels geschehen war, in dem die Kleine sich ganz sehen konnte, und vermuthlich sich so zum erstenmal sah. Das ruͤhrende Ergoͤtzen ihrer reizenden Wohlthaͤ- terinn an dem freudigen Erstaunen des Kindes, das be- thraͤnte Laͤcheln, mit dem sie dem Kinde die Haare aus dem Gesichte strich, und es von Zeit zu Zeit auf
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man blos aus ihren guten Handlungen auf ihre Froͤm-
migkeit schließen duͤrfen. Jeden Tag bezeichnet sie durch
Wohlthaten. Jch weiß wohl, daß man reichen Leuten
eine Gabe, und selbst ansehnliche Gaben, eben nicht
zum Verdienst rechnen darf; nicht die Wohlthat selbst,
sondern die Art, wie sie von ihnen erzeigt wird, macht
ihr Verdienst aus, und gerade hier ist es, wo ich Ma-
dame Recamier unaussprechlich edel und liebenswuͤrdig
gefunden habe. Daß sie mit ihrer Wohlthaͤtigkeit in
meiner Gegenwart nur habe prunken wollen, (wie zu-
weilen der Neid mir eingewendet) ist schon deshalb un-
moͤglich, weil ich zu jeder Stunde des Tages Zutritt
bei ihr hatte, und oft ein sehr unerwarteter Zeuge ihrer
Handlungen war.
Nie werde ich den schoͤnen Morgen vergessen, an
dem ich sie ganz allein in Gesellschaft eines kleinen taub-
stummen Maͤdchens fand, das sie, Gott weiß in
welchem Dorfe, bei einer Spazierfahrt aufgelesen hatte.
Eine Zeitlang war das Kind auf ihre Kosten erzogen
worden, dann hatte sie durch ihr Vorwort ihm eine
Stelle in dem trefflichen Jnstitut des edeln Sicard ver-
schafft; eben jetzt war das Maͤdchen neu gekleidet zu
ihr gefuͤhrt worden, um von ihr selbst zu Sicard ge-
bracht zu werden. Sie hatte dem Kinde ein Fruͤhstuͤck
auftragen lassen, welches zufaͤllig in dem schoͤnen Ge-
sellschaftssaal, auf einem Marmortische, unweit eines
Spiegels geschehen war, in dem die Kleine sich ganz
sehen konnte, und vermuthlich sich so zum erstenmal
sah. Das ruͤhrende Ergoͤtzen ihrer reizenden Wohlthaͤ-
terinn an dem freudigen Erstaunen des Kindes, das be-
thraͤnte Laͤcheln, mit dem sie dem Kinde die Haare
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Die "Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804" von Au… [mehr]
Die "Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804" von August von Kotzebue erschienen 1804 in einer einbändigen Ausgabe im Frölich-Verlag, Berlin. Im gleichen Jahr wurde diese Ausgabe als zweibändige Ausgabe in einem Band im Titel als "unveränderte Auflage" bezeichnet, herausgegeben. Das Deutsche Textarchiv hat den Text der 3. unveränderten Auflage im Rahmen einer Kuration herausgegeben.
Kotzebue, August von: Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804. Bd. 1. Berlin, 1804, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kotzebue_erinnerungen01_1804/117>, abgerufen am 08.07.2024.
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