Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Hausthür ist breit genug, um im äußersten Falle einen Menschen durchzulassen, dessen Rücken eine schwere Last trägt. Die Fenster sind hoch und hell; denn die Augen, die da hervorlugen, müssen klar sehen, wer die Straße daherkömmt. Kein Baum verengt die Aussicht; die Vögel des Himmels, die da vorüberziehen, müssen noch die zwanzig Schritte, wo die Bäume der Pfarrei stehen, weiter fliegen, bis sie einen Ruheort finden. Der dieses Haus einmal gebaut, muß traurigen Gemüthes gewesen sein, daß er den Keim in die Erde zu legen vergessen hat, aus dem dann ein schöner Baum werden konnte! Oder war er zu heiteren Sinnes, wenn er bedachte, daß er für sich und seine Kinder eine sichere Wohnstätte gefunden, die Fuchs, Marder und Taube nicht erst zu suchen hatten, und darüber der Vögel vergaß, die kein Nachtquartier hatten? Wir stehen vor der Wohnung des Dorfjuden. Es liegt heute eine wundersame, fast beengende Stille da herum, als wäre es von irgend einem Banne umfangen. Die niedere Hausthür ist zugelehnt, als sollte da heute Niemand ein-, Niemand heraustreten. Auch eine andere Thür mit schwarzen Läden ist fest verschlossen; man begreift nicht, was das hölzerne Schild, das darüber hängt, mit seinen verwitterten und verwischten Worten: "Gemischte Waarenhandlung" heute bedeuten soll. Es kommt Niemand kaufen, und die verkaufen sollen, schrecken vor dem Berühren des blanken Geldstückes zurück. Kluge Bachstelzen und Hausthür ist breit genug, um im äußersten Falle einen Menschen durchzulassen, dessen Rücken eine schwere Last trägt. Die Fenster sind hoch und hell; denn die Augen, die da hervorlugen, müssen klar sehen, wer die Straße daherkömmt. Kein Baum verengt die Aussicht; die Vögel des Himmels, die da vorüberziehen, müssen noch die zwanzig Schritte, wo die Bäume der Pfarrei stehen, weiter fliegen, bis sie einen Ruheort finden. Der dieses Haus einmal gebaut, muß traurigen Gemüthes gewesen sein, daß er den Keim in die Erde zu legen vergessen hat, aus dem dann ein schöner Baum werden konnte! Oder war er zu heiteren Sinnes, wenn er bedachte, daß er für sich und seine Kinder eine sichere Wohnstätte gefunden, die Fuchs, Marder und Taube nicht erst zu suchen hatten, und darüber der Vögel vergaß, die kein Nachtquartier hatten? Wir stehen vor der Wohnung des Dorfjuden. Es liegt heute eine wundersame, fast beengende Stille da herum, als wäre es von irgend einem Banne umfangen. Die niedere Hausthür ist zugelehnt, als sollte da heute Niemand ein-, Niemand heraustreten. Auch eine andere Thür mit schwarzen Läden ist fest verschlossen; man begreift nicht, was das hölzerne Schild, das darüber hängt, mit seinen verwitterten und verwischten Worten: „Gemischte Waarenhandlung“ heute bedeuten soll. Es kommt Niemand kaufen, und die verkaufen sollen, schrecken vor dem Berühren des blanken Geldstückes zurück. Kluge Bachstelzen und <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <p><pb facs="#f0009"/> Hausthür ist breit genug, um im äußersten Falle einen Menschen durchzulassen, dessen Rücken eine schwere Last trägt. Die Fenster sind hoch und hell; denn die Augen, die da hervorlugen, müssen klar sehen, wer die Straße daherkömmt. Kein Baum verengt die Aussicht; die Vögel des Himmels, die da vorüberziehen, müssen noch die zwanzig Schritte, wo die Bäume der Pfarrei stehen, weiter fliegen, bis sie einen Ruheort finden. Der dieses Haus einmal gebaut, muß traurigen Gemüthes gewesen sein, daß er den Keim in die Erde zu legen vergessen hat, aus dem dann ein schöner Baum werden konnte! Oder war er zu heiteren Sinnes, wenn er bedachte, daß er für sich und seine Kinder eine sichere Wohnstätte gefunden, die Fuchs, Marder und Taube nicht erst zu suchen hatten, und darüber der Vögel vergaß, die kein Nachtquartier hatten?</p><lb/> <p>Wir stehen vor der Wohnung des Dorfjuden. Es liegt heute eine wundersame, fast beengende Stille da herum, als wäre es von irgend einem Banne umfangen. Die niedere Hausthür ist zugelehnt, als sollte da heute Niemand ein-, Niemand heraustreten. Auch eine andere Thür mit schwarzen Läden ist fest verschlossen; man begreift nicht, was das hölzerne Schild, das darüber hängt, mit seinen verwitterten und verwischten Worten: „Gemischte Waarenhandlung“ heute bedeuten soll. Es kommt Niemand kaufen, und die verkaufen sollen, schrecken vor dem Berühren des blanken Geldstückes zurück. Kluge Bachstelzen und<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0009]
Hausthür ist breit genug, um im äußersten Falle einen Menschen durchzulassen, dessen Rücken eine schwere Last trägt. Die Fenster sind hoch und hell; denn die Augen, die da hervorlugen, müssen klar sehen, wer die Straße daherkömmt. Kein Baum verengt die Aussicht; die Vögel des Himmels, die da vorüberziehen, müssen noch die zwanzig Schritte, wo die Bäume der Pfarrei stehen, weiter fliegen, bis sie einen Ruheort finden. Der dieses Haus einmal gebaut, muß traurigen Gemüthes gewesen sein, daß er den Keim in die Erde zu legen vergessen hat, aus dem dann ein schöner Baum werden konnte! Oder war er zu heiteren Sinnes, wenn er bedachte, daß er für sich und seine Kinder eine sichere Wohnstätte gefunden, die Fuchs, Marder und Taube nicht erst zu suchen hatten, und darüber der Vögel vergaß, die kein Nachtquartier hatten?
Wir stehen vor der Wohnung des Dorfjuden. Es liegt heute eine wundersame, fast beengende Stille da herum, als wäre es von irgend einem Banne umfangen. Die niedere Hausthür ist zugelehnt, als sollte da heute Niemand ein-, Niemand heraustreten. Auch eine andere Thür mit schwarzen Läden ist fest verschlossen; man begreift nicht, was das hölzerne Schild, das darüber hängt, mit seinen verwitterten und verwischten Worten: „Gemischte Waarenhandlung“ heute bedeuten soll. Es kommt Niemand kaufen, und die verkaufen sollen, schrecken vor dem Berühren des blanken Geldstückes zurück. Kluge Bachstelzen und
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Zitationshilfe: | Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/9>, abgerufen am 25.07.2024. |