Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.zugtere Stelle in der Familie anweis't. Sie hatten das meiste Ungemach zu ertragen, hatten bei Tag nicht Ruhe, bei Nacht nicht Schlaf, sollen sie nun später, wenn das Kind ihrer Aufsicht sich entzogen hat, dafür nicht entschädigt werden? Mit reichlichen Zinsen wurde dies der Bauernmagd von Josseph's Familie wieder zurückgegeben; namentlich war sie der Großmutter lieb und werth; sie hielt nach ihren eigenen Worten große Stücke auf das Bauernmädchen. Parzik's Tochter waltete auch in diesem Hause, als wäre sie daraus hervorgegangen. Man vertraute ihrer Einsicht und Anstelligkeit Alles, was sich nur immer anvertrauen ließ, denn man war fest überzeugt, daß Anezka, so hieß die Tochter Stepan's, nur unbewußt, aber nie mit bösem Willen ihrem Dienstherrn eine Kränkung verursachen würde. Die alte Marjim, wenn man ihr Vorwürfe machte, daß sie einer Christin so unbedingt das ganze Haus überantwortet hatte, schüttelte stets den Kopf und meinte: bei der hat sich Gott vergriffen, er hat wollen aus ihr eine Jüdin machen, und nur zufällig ist sie als Parzik's Tochter zur Welt gekommen. Die hat ein Herz und einen Kopf, sie könnt' des Nikolsburger Landrabbiners Tochter sein. Auf mein' Anezka lass' ich nichts kommen. -- Seit einiger Zeit jedoch, es war nicht lange her, etwa seitdem der neue Pfarrer ins Dorf gekommen, schien mit der Bauernmagd eine gewaltige Veränderung zugtere Stelle in der Familie anweis't. Sie hatten das meiste Ungemach zu ertragen, hatten bei Tag nicht Ruhe, bei Nacht nicht Schlaf, sollen sie nun später, wenn das Kind ihrer Aufsicht sich entzogen hat, dafür nicht entschädigt werden? Mit reichlichen Zinsen wurde dies der Bauernmagd von Josseph's Familie wieder zurückgegeben; namentlich war sie der Großmutter lieb und werth; sie hielt nach ihren eigenen Worten große Stücke auf das Bauernmädchen. Parzik's Tochter waltete auch in diesem Hause, als wäre sie daraus hervorgegangen. Man vertraute ihrer Einsicht und Anstelligkeit Alles, was sich nur immer anvertrauen ließ, denn man war fest überzeugt, daß Anezka, so hieß die Tochter Stepan's, nur unbewußt, aber nie mit bösem Willen ihrem Dienstherrn eine Kränkung verursachen würde. Die alte Marjim, wenn man ihr Vorwürfe machte, daß sie einer Christin so unbedingt das ganze Haus überantwortet hatte, schüttelte stets den Kopf und meinte: bei der hat sich Gott vergriffen, er hat wollen aus ihr eine Jüdin machen, und nur zufällig ist sie als Parzik's Tochter zur Welt gekommen. Die hat ein Herz und einen Kopf, sie könnt' des Nikolsburger Landrabbiners Tochter sein. Auf mein' Anezka lass' ich nichts kommen. — Seit einiger Zeit jedoch, es war nicht lange her, etwa seitdem der neue Pfarrer ins Dorf gekommen, schien mit der Bauernmagd eine gewaltige Veränderung <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="6"> <p><pb facs="#f0084"/> zugtere Stelle in der Familie anweis't. Sie hatten das meiste Ungemach zu ertragen, hatten bei Tag nicht Ruhe, bei Nacht nicht Schlaf, sollen sie nun später, wenn das Kind ihrer Aufsicht sich entzogen hat, dafür nicht entschädigt werden? Mit reichlichen Zinsen wurde dies der Bauernmagd von Josseph's Familie wieder zurückgegeben; namentlich war sie der Großmutter lieb und werth; sie hielt nach ihren eigenen Worten große Stücke auf das Bauernmädchen. Parzik's Tochter waltete auch in diesem Hause, als wäre sie daraus hervorgegangen. Man vertraute ihrer Einsicht und Anstelligkeit Alles, was sich nur immer anvertrauen ließ, denn man war fest überzeugt, daß Anezka, so hieß die Tochter Stepan's, nur unbewußt, aber nie mit bösem Willen ihrem Dienstherrn eine Kränkung verursachen würde.</p><lb/> <p>Die alte Marjim, wenn man ihr Vorwürfe machte, daß sie einer Christin so unbedingt das ganze Haus überantwortet hatte, schüttelte stets den Kopf und meinte: bei der hat sich Gott vergriffen, er hat wollen aus ihr eine Jüdin machen, und nur zufällig ist sie als Parzik's Tochter zur Welt gekommen. Die hat ein Herz und einen Kopf, sie könnt' des Nikolsburger Landrabbiners Tochter sein. Auf mein' Anezka lass' ich nichts kommen. —</p><lb/> <p>Seit einiger Zeit jedoch, es war nicht lange her, etwa seitdem der neue Pfarrer ins Dorf gekommen, schien mit der Bauernmagd eine gewaltige Veränderung<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0084]
zugtere Stelle in der Familie anweis't. Sie hatten das meiste Ungemach zu ertragen, hatten bei Tag nicht Ruhe, bei Nacht nicht Schlaf, sollen sie nun später, wenn das Kind ihrer Aufsicht sich entzogen hat, dafür nicht entschädigt werden? Mit reichlichen Zinsen wurde dies der Bauernmagd von Josseph's Familie wieder zurückgegeben; namentlich war sie der Großmutter lieb und werth; sie hielt nach ihren eigenen Worten große Stücke auf das Bauernmädchen. Parzik's Tochter waltete auch in diesem Hause, als wäre sie daraus hervorgegangen. Man vertraute ihrer Einsicht und Anstelligkeit Alles, was sich nur immer anvertrauen ließ, denn man war fest überzeugt, daß Anezka, so hieß die Tochter Stepan's, nur unbewußt, aber nie mit bösem Willen ihrem Dienstherrn eine Kränkung verursachen würde.
Die alte Marjim, wenn man ihr Vorwürfe machte, daß sie einer Christin so unbedingt das ganze Haus überantwortet hatte, schüttelte stets den Kopf und meinte: bei der hat sich Gott vergriffen, er hat wollen aus ihr eine Jüdin machen, und nur zufällig ist sie als Parzik's Tochter zur Welt gekommen. Die hat ein Herz und einen Kopf, sie könnt' des Nikolsburger Landrabbiners Tochter sein. Auf mein' Anezka lass' ich nichts kommen. —
Seit einiger Zeit jedoch, es war nicht lange her, etwa seitdem der neue Pfarrer ins Dorf gekommen, schien mit der Bauernmagd eine gewaltige Veränderung
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Zitationshilfe: | Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/84>, abgerufen am 29.06.2024. |