Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Babe, rief der Knabe entsetzt, ich kann und darf dir's nicht sagen, und wenn du mich todt schlägst -- Die alte Marjim bestand nicht mehr auf der Antwort; ihr klarer, zum vollsten Bewußtsein gereifter Verstand wußte sich dieses Entsetzen, das in religiösen Motiven wurzelte, zu deuten. Und? Dann ist sie zum hölzernen Johann von Nepomuk, der in einem Winkel der Stube aufgehängt ist, hingegangen und hat vor dem die Hände aufgehoben. Hörst du, Babe? Nun? Und hat zu ihm gebetet. Gebetet! murmelte Marjim nach. Das habe ich für meine Mutter gethan, hat sie dann zu mir gesagt, wie sie fertig war; richt' ihr aus, daß ich gebetet habe für meine Mutter, für dich und für deinen Vater. Und ihre Augen sind dabei von Thränen überflössen, und sie hat so heftig geschluchzt, wie ich's noch von keinem Menschen gehört. -- -- -- Hörten die Beiden um diesen Augenblick die Flügelschläge eines Engels, der unsichtbar, licht goldig durch die enge Stube rauschte? Sahen sie den leuchtenden Glanz seiner Fittige, den milden Ernst seiner auf sie schauenden Augen, daß sie Beide so stille wurden, sich so beseligt ansahen? Verständigung in dem Auge des Einen, Verklärung in dem Antlitze der Andern. Draußen im Gewölbe saß um diese Stunde Einer, Babe, rief der Knabe entsetzt, ich kann und darf dir's nicht sagen, und wenn du mich todt schlägst — Die alte Marjim bestand nicht mehr auf der Antwort; ihr klarer, zum vollsten Bewußtsein gereifter Verstand wußte sich dieses Entsetzen, das in religiösen Motiven wurzelte, zu deuten. Und? Dann ist sie zum hölzernen Johann von Nepomuk, der in einem Winkel der Stube aufgehängt ist, hingegangen und hat vor dem die Hände aufgehoben. Hörst du, Babe? Nun? Und hat zu ihm gebetet. Gebetet! murmelte Marjim nach. Das habe ich für meine Mutter gethan, hat sie dann zu mir gesagt, wie sie fertig war; richt' ihr aus, daß ich gebetet habe für meine Mutter, für dich und für deinen Vater. Und ihre Augen sind dabei von Thränen überflössen, und sie hat so heftig geschluchzt, wie ich's noch von keinem Menschen gehört. — — — Hörten die Beiden um diesen Augenblick die Flügelschläge eines Engels, der unsichtbar, licht goldig durch die enge Stube rauschte? Sahen sie den leuchtenden Glanz seiner Fittige, den milden Ernst seiner auf sie schauenden Augen, daß sie Beide so stille wurden, sich so beseligt ansahen? Verständigung in dem Auge des Einen, Verklärung in dem Antlitze der Andern. Draußen im Gewölbe saß um diese Stunde Einer, <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="5"> <pb facs="#f0081"/> <p>Babe, rief der Knabe entsetzt, ich kann und darf dir's nicht sagen, und wenn du mich todt schlägst —</p><lb/> <p>Die alte Marjim bestand nicht mehr auf der Antwort; ihr klarer, zum vollsten Bewußtsein gereifter Verstand wußte sich dieses Entsetzen, das in religiösen Motiven wurzelte, zu deuten.</p><lb/> <p>Und?</p><lb/> <p>Dann ist sie zum hölzernen Johann von Nepomuk, der in einem Winkel der Stube aufgehängt ist, hingegangen und hat vor dem die Hände aufgehoben. Hörst du, Babe?</p><lb/> <p>Nun?</p><lb/> <p>Und hat zu ihm gebetet.</p><lb/> <p>Gebetet! murmelte Marjim nach.</p><lb/> <p>Das habe ich für meine Mutter gethan, hat sie dann zu mir gesagt, wie sie fertig war; richt' ihr aus, daß ich gebetet habe für meine Mutter, für dich und für deinen Vater. Und ihre Augen sind dabei von Thränen überflössen, und sie hat so heftig geschluchzt, wie ich's noch von keinem Menschen gehört. — — —</p><lb/> <p>Hörten die Beiden um diesen Augenblick die Flügelschläge eines Engels, der unsichtbar, licht goldig durch die enge Stube rauschte? Sahen sie den leuchtenden Glanz seiner Fittige, den milden Ernst seiner auf sie schauenden Augen, daß sie Beide so stille wurden, sich so beseligt ansahen? Verständigung in dem Auge des Einen, Verklärung in dem Antlitze der Andern.</p><lb/> <p>Draußen im Gewölbe saß um diese Stunde Einer,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0081]
Babe, rief der Knabe entsetzt, ich kann und darf dir's nicht sagen, und wenn du mich todt schlägst —
Die alte Marjim bestand nicht mehr auf der Antwort; ihr klarer, zum vollsten Bewußtsein gereifter Verstand wußte sich dieses Entsetzen, das in religiösen Motiven wurzelte, zu deuten.
Und?
Dann ist sie zum hölzernen Johann von Nepomuk, der in einem Winkel der Stube aufgehängt ist, hingegangen und hat vor dem die Hände aufgehoben. Hörst du, Babe?
Nun?
Und hat zu ihm gebetet.
Gebetet! murmelte Marjim nach.
Das habe ich für meine Mutter gethan, hat sie dann zu mir gesagt, wie sie fertig war; richt' ihr aus, daß ich gebetet habe für meine Mutter, für dich und für deinen Vater. Und ihre Augen sind dabei von Thränen überflössen, und sie hat so heftig geschluchzt, wie ich's noch von keinem Menschen gehört. — — —
Hörten die Beiden um diesen Augenblick die Flügelschläge eines Engels, der unsichtbar, licht goldig durch die enge Stube rauschte? Sahen sie den leuchtenden Glanz seiner Fittige, den milden Ernst seiner auf sie schauenden Augen, daß sie Beide so stille wurden, sich so beseligt ansahen? Verständigung in dem Auge des Einen, Verklärung in dem Antlitze der Andern.
Draußen im Gewölbe saß um diese Stunde Einer,
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