Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Treten wir wieder zur Großmutter ein. Die alte Marjim hatte unterdeß eine nicht minder qualvolle Stunde verlebt, als ihr Sohn; sie wartete noch immer auf den heimkehrenden Enkel, und da er so lange ausblieb, meinte sie, ob ihm die Kinder oder der Mann Madlena's nicht ein Leid angethan? Dann zweifelte sie wieder, ob Madlena das Geschenk nicht mit Widerwillen zurückgewiesen, und berechnete dann, was sie dazu gesagt haben werde. Dieser ungewisse Zustand wirkte auf die alte Frau so lähmend ein, daß sie sich aus dem Bette nicht zu erheben vermochte; es war ihr immer, als hielte sie ein starker Arm mit kräftiger Faust zurück und ließe sie nicht eher los, bis Fischele zurückgekommen und ihr Kunde von seiner Sendung gethan hätte. Endlich kam der Knabe. Mit der nämlichen Vorsicht, die er beim Weggehen gebraucht, schlich er jetzt wieder in die Stube. Sein Eintritt benahm der alten Frau fast die Sprache; sie erhob sich zwar mit einer Kraft, die man ihrer Schwäche nicht zugetraut hätte, von ihrem Kissen, aber sprechen konnte sie nicht. Sie winkte ihn zu sich ans Bett. Fischele hatte seine Stimme zum tiefsten Lispeln herabgedrückt. Babe, sagte er, indem er sich zu ihrem Ohre neigte, sie hat's nicht über mich gemacht -- -- Red hecher (lauter), begann mit einem Male die alte Marjim, auf deren Antlitze der Kampf mit der wieder gewonnenen Sprache eine dunkle Röthe hervor- Treten wir wieder zur Großmutter ein. Die alte Marjim hatte unterdeß eine nicht minder qualvolle Stunde verlebt, als ihr Sohn; sie wartete noch immer auf den heimkehrenden Enkel, und da er so lange ausblieb, meinte sie, ob ihm die Kinder oder der Mann Madlena's nicht ein Leid angethan? Dann zweifelte sie wieder, ob Madlena das Geschenk nicht mit Widerwillen zurückgewiesen, und berechnete dann, was sie dazu gesagt haben werde. Dieser ungewisse Zustand wirkte auf die alte Frau so lähmend ein, daß sie sich aus dem Bette nicht zu erheben vermochte; es war ihr immer, als hielte sie ein starker Arm mit kräftiger Faust zurück und ließe sie nicht eher los, bis Fischele zurückgekommen und ihr Kunde von seiner Sendung gethan hätte. Endlich kam der Knabe. Mit der nämlichen Vorsicht, die er beim Weggehen gebraucht, schlich er jetzt wieder in die Stube. Sein Eintritt benahm der alten Frau fast die Sprache; sie erhob sich zwar mit einer Kraft, die man ihrer Schwäche nicht zugetraut hätte, von ihrem Kissen, aber sprechen konnte sie nicht. Sie winkte ihn zu sich ans Bett. Fischele hatte seine Stimme zum tiefsten Lispeln herabgedrückt. Babe, sagte er, indem er sich zu ihrem Ohre neigte, sie hat's nicht über mich gemacht — — Red hecher (lauter), begann mit einem Male die alte Marjim, auf deren Antlitze der Kampf mit der wieder gewonnenen Sprache eine dunkle Röthe hervor- <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="5"> <pb facs="#f0071"/> <p>Treten wir wieder zur Großmutter ein.</p><lb/> <p>Die alte Marjim hatte unterdeß eine nicht minder qualvolle Stunde verlebt, als ihr Sohn; sie wartete noch immer auf den heimkehrenden Enkel, und da er so lange ausblieb, meinte sie, ob ihm die Kinder oder der Mann Madlena's nicht ein Leid angethan? Dann zweifelte sie wieder, ob Madlena das Geschenk nicht mit Widerwillen zurückgewiesen, und berechnete dann, was sie dazu gesagt haben werde.</p><lb/> <p>Dieser ungewisse Zustand wirkte auf die alte Frau so lähmend ein, daß sie sich aus dem Bette nicht zu erheben vermochte; es war ihr immer, als hielte sie ein starker Arm mit kräftiger Faust zurück und ließe sie nicht eher los, bis Fischele zurückgekommen und ihr Kunde von seiner Sendung gethan hätte.</p><lb/> <p>Endlich kam der Knabe. Mit der nämlichen Vorsicht, die er beim Weggehen gebraucht, schlich er jetzt wieder in die Stube. Sein Eintritt benahm der alten Frau fast die Sprache; sie erhob sich zwar mit einer Kraft, die man ihrer Schwäche nicht zugetraut hätte, von ihrem Kissen, aber sprechen konnte sie nicht. Sie winkte ihn zu sich ans Bett. Fischele hatte seine Stimme zum tiefsten Lispeln herabgedrückt.</p><lb/> <p>Babe, sagte er, indem er sich zu ihrem Ohre neigte, sie hat's nicht über mich gemacht — —</p><lb/> <p>Red hecher (lauter), begann mit einem Male die alte Marjim, auf deren Antlitze der Kampf mit der wieder gewonnenen Sprache eine dunkle Röthe hervor-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0071]
Treten wir wieder zur Großmutter ein.
Die alte Marjim hatte unterdeß eine nicht minder qualvolle Stunde verlebt, als ihr Sohn; sie wartete noch immer auf den heimkehrenden Enkel, und da er so lange ausblieb, meinte sie, ob ihm die Kinder oder der Mann Madlena's nicht ein Leid angethan? Dann zweifelte sie wieder, ob Madlena das Geschenk nicht mit Widerwillen zurückgewiesen, und berechnete dann, was sie dazu gesagt haben werde.
Dieser ungewisse Zustand wirkte auf die alte Frau so lähmend ein, daß sie sich aus dem Bette nicht zu erheben vermochte; es war ihr immer, als hielte sie ein starker Arm mit kräftiger Faust zurück und ließe sie nicht eher los, bis Fischele zurückgekommen und ihr Kunde von seiner Sendung gethan hätte.
Endlich kam der Knabe. Mit der nämlichen Vorsicht, die er beim Weggehen gebraucht, schlich er jetzt wieder in die Stube. Sein Eintritt benahm der alten Frau fast die Sprache; sie erhob sich zwar mit einer Kraft, die man ihrer Schwäche nicht zugetraut hätte, von ihrem Kissen, aber sprechen konnte sie nicht. Sie winkte ihn zu sich ans Bett. Fischele hatte seine Stimme zum tiefsten Lispeln herabgedrückt.
Babe, sagte er, indem er sich zu ihrem Ohre neigte, sie hat's nicht über mich gemacht — —
Red hecher (lauter), begann mit einem Male die alte Marjim, auf deren Antlitze der Kampf mit der wieder gewonnenen Sprache eine dunkle Röthe hervor-
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Zitationshilfe: | Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/71>, abgerufen am 23.07.2024. |